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75 Jahre Republik Türkei
Eine Bilanz des Kemalismus
Von Justus Leicht 7. November 1998
Eine ganze Woche lang wurde in der Türkei die Gründung der Republik und
Übernahme des Amtes des Staatspräsidenten durch Mustafa Kemal Pascha (ab
1934 Atatürk, "Vater der Türken") vor 75 Jahren, am 29. Oktober 1923,
gefeiert. Außerdem jährt sich dieses Jahr die Revolution der "Jungtürken",
den Vorläufern der Kemalisten, zum 90. und der Todestag Atatürks zum 60.
Mal.
Der Staatsgründer ist im Land zu einer Art Kultfigur erhoben worden.
Eine kritische Auseinandersetzung mit ihm und dem "Kemalismus", den
Prinzipien, auf die sich die Türkei seit 1923 beruft, hat dementsprechend
kaum stattgefunden.
Kernpunkte des Kemalismus waren Einheit und Unabhängigkeit des Landes,
Laizismus und republikanisches Prinzip (d.h. Trennung von Staat und
Religion), Modernisierung und die Schaffung einer Gesellschaft ohne
Klassen und Privilegien. Es ist offensichtlich, daß von all dem nichts
verwirklicht ist.
Die Massendemonstrationen am Jahrestag fanden oft in Großstädten statt,
deren Oberbürgermeister - wie in Istanbul oder der Hauptstadt Ankara - von
der islamistischen Tugendpartei Necmettin Erbakans gestellt werden. In der
Woche nach den Feierlichkeiten wurde bekannt, daß ein Anschlag islamischer
Fanatiker auf das Atatürk-Mausoleum nur knapp gescheitert war.
Von Atatürks Prinzip des "Halkçilik", womit eine am Interesse des
Volkes orientierte Politik und die Leugnung von Klassengegensätzen gemeint
sind, ist ebenfalls nichts übriggeblieben. Gerade in den letzten Jahren
sind besonders nach der Zollunion mit der EU und den Auswirkungen der
Asienkrise Arbeitslosigkeit und Armut regelrecht explodiert. In den
Metropolen lebt ein großer Teil der Stadtbevölkerung in Elendsvierteln.
Viele dieser Slumbewohner sind aus dem überwiegend kurdisch besiedelten
Südosten des Landes geflüchtet, wo seit über zehn Jahren die "nationale
Einheit" mit einem mörderischen Krieg, in dem zehntausende Menschen ihr
Leben verloren haben, "aufrechterhalten" wird. Gleichzeitig ist
offenkundig geworden, daß Staat, Mafia und rechtsextreme Mordbanden seit
langem aufs engste miteinander verflochten sind.
An die Stelle nationaler Unabhängigkeit ist die vollständige
Abhängigkeit von Investitionen und Krediten des internationalen Kapitals
getreten. Streitig ist heute nur noch, ob weiterhin die USA oder in
Zukunft doch verstärkt Europa die Türkei als Brückenkopf zu den
Rohstoffquellen und Märkten des Nahen Ostens und besonders der
turksprachigen Länder des Kaukasus nutzen kann. Fast alle der dortigen
Republiken schickten ihre Staatsoberhäupter zu den Feierlichkeiten - um
unter den Augen des amerikanischen Energieministers eine gemeinsame
Absichtserklärung mit der Türkei über den Bau einer Erdöl-Pipeline zu
unterschreiben.
Von all seinen Versprechungen und Idealen hat der Kemalismus also kein
einziges eingelöst. Man muß allerdings die Frage stellen: War er dazu
überhaupt in der Lage? Blicken wir dazu kurz zurück.
Die Jungtürken
Im 19. Jahrhundert war der Zerfall des Osmanischen Feudalreiches zwar
bereits weit fortgeschritten, eine begrenzte kapitalistische Entwicklung
hatte etwa seit Beginn des Jahrhunderts stattgefunden, Industrie hatte
sich jedoch kaum entwickelt. Zum einen fürchteten die Sultane die
Entstehung einer Arbeiterklasse, zum andereren konnten insbesondere
englische und französische Industrie ohne größere Zollhemmnisse den Markt
des Osmanischen Reiches erobern und das dortige Handwerk ruinieren.
Lediglich die Ausbeutung der Bauern durch die Grundherren und
Geldverleiher (nicht selten ein und dieselbe Person) steigerte sich
extrem. Diese erhielten 1858 durch ein Landgesetz, das privaten Landbesitz
zuließ, schließlich auch die Möglichkeit, sich in großem Ausmaß
Grundbesitz anzueignen und ihre Position gegenüber dem Sultan zu stärken.
Das aus den Bauern herausgepreßte Geld wurde dann oftmals in Posten im
Staatsapparat, der Armee oder dem Klerus "investiert".
Eine zum alten Feudalsystem in Gegensatz stehende produktive
bürgerliche Schicht von Bedeutung gab es praktisch nicht. An der Spitze
der ersten Revolution standen daher 1908 Armeeoffiziere, die sogenannten
Jungtürken ("Yeni osmanhlar").
Leo Trotzki erklärte das damals so: "Die am meisten gebildeten Elemente
der türkischen Intelligenz (wie Lehrer, Ingenieure u.a.) wurden Offiziere,
da sie in den Schulen und Fabriken fast keine Anwendung für ihre Kräfte
fanden. Viele von ihnen hatten in westeuropäischen Ländern studiert und
waren vertraut mit dem dortigen System, in ihrer Heimat dagegen wurden sie
mit der Unwissenheit und dem Elend des türkischen Soldaten und der
Herabwürdigung des Staates konfrontiert... Somit organisierte der Staat in
seinem Schoß die kämpferische Vorhut der sich herausbildenden bürgerlichen
Nation: eine denkende, kritisierende und unzufriedene Intelligenz." (Leo
Trotzki, Die türkische Revolution und die Aufgaben des
Proletariats, in: Die Balkankriege 1912-13, Essen 1996, S.
24)
Er warnte jedoch: "Die Stärke des türkischen Offizierskorps und das
Geheimnis seines Erfolgs bestehen... in einer aktiven Sympathie seitens
der fortschrittlichen Klassen: der Kaufleute, der Handwerker, der
Arbeiter, eines Teiles der Beamten und der Geistlichen sowie letztlich des
Dorfes in Gestalt der Bauernarmee. Aber all diese Klassen bringen außer
ihrer Sympathie auch ihre Interessen, Forderungen und Hoffnungen mit. Alle
lange unterdrückten sozialen Leidenschaften treten nunmehr offen zutage,
da das Parlament für sie ein Zentrum geschaffen hat. Bitter enttäuscht
werden diejenigen sein, die denken, die türkische Revolution sei schon zu
Ende. Und zu den Enttäuschten wird nicht nur Abdul-Hamid [der Sultan]
gehören, sondern offenbar auch die Jungtürken." (a.a.O., S. 30)
Eine durchgreifende Landreform erfolgte dann auch nicht, die Stellung
des Klerus und das Sultanat blieben eine unangetastete Brutstätte
reaktionärer Intrigen, da die bürgerlichen Offiziere eine revolutionäre
Mobilisierung der Arbeiter und armen Bauern weit mehr fürchteten als den
Sultan oder die imperialistischen Mächte. Bei einem Staatsstreich der
Sultanskamarilla im Sommer 1912 ließen die Jungtürken deshalb auch
widerstandslos den Sturz ihrer Regierung zu.
Aufgrund der völligen Unfähigkeit und Korruption der feudalen Kräfte,
die in den Balkankriegen schnell zu Tage trat, eroberten die Jungtürken
jedoch bereits ein knappes halbes Jahr darauf am Vorabend des Ersten
Weltkrieges die Regierungsmacht zurück. Die Furcht vor einer sozialen
Revolution war ihnen geblieben. Statt das Volk gegen den Imperialismus zu
mobilisieren, begaben sie sich daher unter die Fittiche des preußischen
Militarismus und zogen auf Seiten des Deutschen Reiches in den Ersten
Weltkrieg.
Anstelle einer Lösung der nationalen Frage durch eine freie Einigung
aller Nationalitäten und Religionen, ohne Föderalisierung,
Demokratisierung und vor allem einen ernsthaften Appell an die
geknechteten Bauernmassen undenkbar, trat bald die Ideologie des
Panislamismus, dann der rassistische Pantürkismus bzw. Turanismus. 1915
organisierte die jungtürkische Regierung, unterstützt von deutschen
Offizieren und kurdischen Stammesführern, ein gewaltiges Pogrom an den
Armeniern, bei dem hunderttausende Unschuldige ermordet wurden.
Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde mit der Niederlage des Deutschen
Kaiserreiches das Schicksal des Osmanischen Reiches und damit auch das der
diskreditierten Jungtürken von den Entente-Mächten besiegelt. Das
Parlament wurde von den Besatzungstruppen der Entente aufgelöst, die
Jungtürken abgesetzt. Danach begann der Aufstieg des Generals Mustafa
Kemal.
Mustafa Kemal
Ursprünglich von der neuen probritischen Regierung des Sultans nach
Anatolien geschickt, um den Widerstand gegen die Besetzung der Türkei
durch die Großmächte niederzuschlagen, stellte sich Kemal an dessen
Spitze. Er proklamierte eine Gegenregierung zu der des Sultans in Istanbul
und führte einen gut drei Jahre dauernden Befreiungskampf.
Seine Bewegung war jedoch wie schon die der Jungtürken von den gleichen
Widersprüchen geprägt, die ein paar Jahre später Trotzki bei der
chinesischen Kuomintang Tschiang Kaischeks analysierte: "Charakter und
Politik der Bourgeoisie werden bestimmt von der gesamten inneren
Klassenstruktur der Nation, welche den revolutionären Kampf führt; von der
geschichtlichen Epoche, in der sich dieser Kampf entfaltet; vom Grad der
wirtschaftlichen, militärischen und politischen Abhängigkeit der
nationalen Bourgeoisie vom Weltimperialismus insgesamt oder von einem Teil
desselben und endlich, was das hauptsächlichste ist, vom Grad der
Klassenaktivität des nationalen Proletariats und der Art seiner
Verbindungen zur internationalen revolutionären Bewegung. Eine
demokratische und nationale Befreiungsrevolution kann der Bourgeoisie eine
Steigerung der Ausbeutungsmöglichkeiten verheißen. Ein selbständiges
Auftreten des Proletariats in der Arena der Revolution droht ihr die
Ausbeutungsmöglichkeiten überhaupt zu entreißen." (Leo Trotzki,
Ergebnisse und Perspektiven der chinesischen Revolution, in: Die
Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S. 175)
Auch in Kemals 1920 gebildeter "Großer Nationalversammlung" und
Regierung gaben, der Schwäche der türkischen Bourgeoisie entsprechend, wie
schon bei den Jungtürken wieder Grundbesitzer und Offiziere den Ton an.
Kemal appellierte sowohl an den Islam, erklärte "die Person des Kalifen
und Sultans" für "heilig und unverletzlich" (zitiert in: Baku,
Congress of the Peoples of the East, Stenographic Report, London
1977, S. 32), sprach von der "Brüderlichkeit der Türken und Kurden" im
Kampf gegen die "Ungläubigen" (Griechen, Briten, Armenier), appellierte
aber auch mit nahezu "kommunistisch" klingender Rhetorik an die Arbeiter
und Bauern. Er versprach den Bauern Land, den Arbeitern Rechte und den
Kurden Autonomie.
Gleichzeitig, da die Entente zu einem Kompromiß zunächst nicht bereit
war und Deutschland am Boden lag, erbat und erhielt er großzügige
militärische und diplomatische Hilfe von der jungen Sowjetunion. In einem
Telegramm an die sowjetische Regierung Ende November 1920 verstieg er sich
zu folgender Demagogie: "Es ist meine tiefe Überzeugung, daß eines Tages
die Werktätigen des Westens einerseits und die unterdrückten Völker Asiens
und Afrikas andererseits begreifen werden, daß das internationale Kapital
sich ihrer gegenwärtig zur gegenseitigen Vernichtung und Versklavung im
Interesse ihrer Herren bedient, und daß an dem Tag, an dem das Bewußtsein
von den Verbrechen der Kolonialpolitik die Herzen der werktätigen Massen
der Welt ergreift - die Macht der Bourgeoisie endet!" (zitiert
nach: Trotzki, Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 483)
Tatsächlich jedoch ging die Politik Kemals um so mehr nach rechts, je
länger der Befreiungskrieg dauerte und dessen Sieg näher rückte, da er in
Wirklichkeit nichts mehr fürchtete, als ein selbständiges Auftreten der
Arbeiter und Bauern.
Anfang 1921 ließ er die gesamte Führung der gerade gegründeten
Kommunistischen Partei der Türkei umbringen. Mit zunehmenden militärischen
Erfolgen ermordete er Sozialisten, Linke und radikale Bauernführer, nach
Gründung der Republik ging er gegen Streiks vor und verfolgte die Bildung
von Gewerkschaften, verbot den Kurden sogar den Gebrauch ihrer eigenen
Sprache.
Gleichzeitig schaffte seine Regierung jedoch 1922 das Sultanat ab (das
dynastisch besetzte Amt des absoluten Herrschers), vertrieb die
Angehörigen der osmanischen Dynastie und gründete 1923 die Republik.
Mustafa Kemal brach auch die Macht des Klerus, soweit dieser das
feudale Sultanat stützte. Der letzte Sultan Vahidettin, kaum mehr als eine
Marionette der Briten, hatte auf deren Initiative hin eine religiöse
"Kalifatsarmee" aufgebaut, der Scheich-ul-Islam (geistiges Oberhaupt der
Muslime) in einer "Fetva" (übersetzt etwa "Rechtsurteil") zum Kampf gegen
die Kemalisten aufgerufen.
Als Anfang 1924 die Institution des Kalifats abgeschafft wurde, war
dies weltweit eine Sensation. Der osmanische Sultan war immer auch
gleichzeitig Kalif, "Beherrscher aller Gläubigen", gewesen, und hatte
damit - bei weit größerer realer Macht - eine ähnliche Bedeutung wie etwa
der Papst für die Katholiken gehabt. Wenig später folgte die Übernahme
westlicher Gesetzbücher und die Abschaffung der Scharia, der islamischen
Gesetzgebung, und das Verbot aller islamischen Orden, von jeher Horte
finsterster religiöser und politischer Reaktion.
Der Kemalismus und seine Folgen
Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei erforderte die Lösung der
Agrarfrage und die Überwindung der religiösen und nationalen
Zersplitterung, die das Osmanische Reich gekennzeichnet hatte. Die
Großmächte hatten diese Zersplitterung immer wieder ausgenutzt, indem sie
Bündnisse mit verschiedenen Nationalisten oder Stammesführern schlossen.
Ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechend "lösten" die kemalistischen
Offiziere diese Fragen nicht auf demokratische, sondern auf
chauvinistische und konservative Weise.
Die einzigen Grundherren, gegen die die neue Regierung hart vorging,
waren die einst sehr privilegierten Aças und Stammesführer der Kurden.
Außer einigen, die mit Ankara kollaborierten, wurden sie wie
hunderttausende kurdischer Bauern zwangsweise in mehrheitlich türkische
Gebiete deportiert. Sie setzten sich daher mit Ordensleuten und anderen
vormals Priviligierten an die Spitze mehrerer Aufstände der Kurden gegen
die brutale Politik der Zwangsassimilation Ankaras, die allesamt blutig
niedergeschlagen und anschließend zur Rechtfertigung größerer politischer
Unterdrückung benutzt wurden.
In Bezug auf den Laizismus war der Kemalismus nie so konsequent, wie er
im Westen gern dargestellt wird. Tatsächlich ging es Atatürk keineswegs um
die Überwindung der Religion, sondern um die Einbindung eines
modernisierten Islam in den türkischen Nationalismus. Wie alle
bürgerlichen Politiker wußte er, daß "die Religion dem Volke erhalten
bleiben muß". Staat und Klerus wurden nicht vollständig getrennt,
sondern die Geistlichkeit unter staatliche Aufsicht gestellt und vom Staat
bezahlt. Atatürks Nachfolger haben die Islamisierung seitdem weiter
forciert.
Ideologisch wurde die angestrebte Symbiose von Religion und Nation
damals von Ziya Gökalp formuliert, einem wichtigen Theoretiker Kemals, der
u.a. dafür eintrat, den Koran von der arabischen in die von persischen und
arabischen Einflüssen "gereinigte" türkische Sprache zu übersetzen. Heute
greifen Teile der "laizistischen" Armeeführung und kemalistische Politiker
wie Mesut Yilmaz mitunter die Ideen Gökalps in ähnlicher Form wieder
auf.
Wirtschaftlich setzte Atatürk, um die Rückständigkeit der türkischen
Wirtschaft zu überwinden, auf Protektionismus, Importsubstitution und eine
starke Rolle des Staates. 1934 gab es, wohl angesichts der sowjetischen
Industrialisierungserfolge, den ersten Fünfjahresplan.
Die nationalistische Wirtschaftspolitik zeitigte zunächst durchaus
gewisse Erfolge. Die Produktion stieg rasch an, Infrastruktur und die
Basis einer Schwerindustrie entstanden, allerdings nicht zuletzt durch
enge wirtschaftliche Beziehungen insbesondere zu Deutschland.
Mit der ökonomischen Entwicklung wuchs jedoch zwangsläufig auch die
Abhängigkeit von der Weltwirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es
zwar bis in die siebziger Jahre hinein Versuche, auf die Strategie der
Importsubstitution zurückzugreifen, sie scheiterten jedoch allesamt, nicht
zuletzt deshalb, weil die Hauptgewinner der wirtschaftlichen Entwicklung,
die großen Konzerne, Banken und Grundbesitzer an Autarkie und staatlichen
Eingriffen recht wenig interessiert waren. Vielmehr brauchten sie die
Investitionen und Kredite insbesondere der USA und Europas.
Der ökonomischen entsprach die politische und militärische
Abhängigkeit: Nach dem Zweiten Weltkrieg fungierte die Türkei als
Brückenkopf der NATO zum Nahen Osten. Bereits 1947 wurden die ersten
bilateralen Militärabkommen mit den USA geschlossen, 1952 trat das Land
der NATO bei und erhielt seitdem vor allem von den USA und Deutschland in
enormem Umfang finanzielle und militärische Hilfe. Nicht nur die reguläre
Armee wurde mit westlicher Hilfe zu einer schlagkräftigen Truppe
aufgebaut, dasselbe gilt auch für die gefürchteten paramilitärischen
Sondereinheiten. Wenn wegen politischer und sozialer Unruhen das Militär
wie 1960, 1971 und 1980 putschte, geschah dies immer mit Unterstützung
oder zumindest Duldung der NATO.
Die moderne Türkei
Die Modernisierung der Türkei brachte zwangsläufig das mit sich, wovor
sich schon die Sultane und Kalifen gefürchtet hatten: Die Bedeutung der
Landwirtschaft nahm ab, die Masse der Bauern verarmte zunehmend, und in
den Städten entstand besonders seit den siebziger Jahren eine militante
Arbeiterklasse.
Etwa in diesen Zeitraum fällt das Wachstum jener bösartigen Kräfte, die
heute im türkischen Staat eine so fatale Rolle spielen. Der Journalist
Serdar Çelik schreibt dazu: "Zusammen mit den sozialen Spaltungen und der
sozialen Bewegung in den 70'ern in der Türkei begann auch eine
Konzentrierung der als Mafia bezeichneten Drogen- und Waffenhändlerbanden.
Jedoch hatten diese mehrheitlich enge Verbindungen zur MIT [Geheimdienst],
dem Polizeiapparat, dem ÖHD [Amt für besondere Kriegsführung, der als
"Konterguerilla" bekannte türkische Ableger der NATO-Geheimorganisation
Gladio] und vor allem zur MHP [faschistische Partei, auch als "Graue
Wölfe" bekannt]. Viele MHP-Militante wurden von türkischen Drogen- und
Waffenhändlerbanden ernährt. Als es zum Militärputsch kam, wurden fast
alle Bandenchefs Verhören unterzogen, einige wurden getötet. Übrig blieb
ausschließlich die unter der Kontrolle des ÖHD stehende Mafia. Mit dieser
Entwicklung wurden die MHP-Militanten im Laufe der Zeit in allen
europäischen Ländern zur wirkungsvollsten Mafia-Gruppierung." ( Der
Spezialkrieg des türkischen Staates in Kurdistan und die Rolle der
MHP, in: Fikret Aslan u.a., Graue Wölfe heulen wieder, Münster
1997, S. 115)
Nach dem Putsch von 1980 führte das Militärregime die Forderung des
Internationalen Währungsfonds nach einer rückhaltlosen Öffnung der
türkischen Wirtschaft durch. Der Wirtschaftsnationalismus war in den
siebziger Jahren offensichtlich in eine Sackgasse geraten, die "Medizin"
der internationalen Banken ließ sich jedoch mit demokratischen Mitteln
nicht durchsetzen.
Mit systematischem staatlichen Terror brachen die Militärs den
Arbeiterorganisationen das Rückgrat und setzten mit ihrem
Wirtschaftsminister, dem verstorbenen späteren "zivilen"
Ministerpräsidenten und dann Staatspräsidenten Turgut Özal, einem früheren
Islamisten, eines der allseits berüchtigten "Strukturanpassungsprogramme"
des IWF um: Privatisierungen, Subventionsabbau, Senkung der Reallöhne,
Liberalisierung des Außenhandels, Freigabe der Preise und Zinsen,
Aufhebung aller Kapitalverkehrskontrollen.
Um der daraus folgenden immer tieferen sozialen Polarisierung zu
begegnen, setzten die türkischen Regierungen - militärische wie zivile -
seither in unterschiedlicher Intensität und Gewichtung zum einen auf
Nationalismus, Unterdrückung durch den Staat oder rechtsradikale
Mordbanden, zum anderen auf weitere systematische Islamisierung. Die
Militärs machten Religion wieder zum allgemeinen Pflichtunterricht an
allen Schulen und ließen sogar Beträume in Schulen und Universitäten
einrichten. Die staatlichen Islam-Schulen wurden Gymnasien gleichgestellt.
Wer sie besucht, darf nicht nur eine geistliche Laufbahn einschlagen,
sondern jedes beliebige Studienfach belegen.
Der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus liegt also ganz in der
Logik des Kemalismus selbst: Unfähig, die sozialen und nationalen Probleme
zu lösen, setzte er den Islam als Waffe gegen aufkommende Bewegungen der
verarmten und unterdrückten Massen ein.
Viele Forderungen von Organisationen wie Tugendpartei und MHP, die eine
Rückkehr zum Islam bzw. die Wiedergeburt des Osmanischen Reiches auf ihre
Fahnen schreiben, ähneln in zentralen Punkten durchaus dem, was früher
schon von den Kemalisten propagiert, aber nie verwirklicht worden war:
Nationale Einheit und Unabhängigkeit, wirtschaftliche Entwicklung,
Gemeinwohl, Symbiose von türkischem Nationalismus und Islam.
Erbakan und die MHP-Mafia als "Erben" Atatürks - wahrhaft eine böse
Ironie der Geschichte.
Der Kemalismus steht heute vor den Trümmern seiner Politik. Bleibt
jedoch die Frage, warum er sich trotz seiner Schwäche und Unfähigkeit, die
Probleme der Türkei zu lösen, bis heute an der Macht halten konnte?
Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, hier ausführlich auf die
Rolle des Stalinismus einzugehen. Fest steht jedoch, daß er eine wichtige
Rolle spielte, die bürgerliche Herrschaft in der Türkei zu verteidigen,
indem er ein selbständiges Eingreifen der Arbeiterklasse ins politische
Geschehen verhinderte und bedeutende Bevölkerungsschichten in die Arme
reaktionärer Kräfte trieb.
Seit Mitte der zwanziger Jahre haben die Stalinisten behauptet, man
dürfe "zunächst" nur für Demokratie und nationale Unabhängigkeit (der
Türkei oder Kurdistans oder beider) kämpfen, ein sozialistisches Programm
stehe nur in nebelhafter Zukunft auf der Tagesordnung. Daher könne und
müsse man auf der Grundlage eines bürgerlichen Programms mit allen
möglichen "fortschrittlichen" bürgerlichen Kräften zusammenarbeiten, zu
denen manchmal sogar kemalistische Offiziere gezählt wurden. Daß die ganze
Geschichte nicht nur der Türkei immer gerade das Gegenteil bewies, hat sie
wenig gekümmert.
Manche stalinistische Organisationen bilden bis heute eine Stütze der
reaktionären Gewerkschaftsbürokratie. Andere Gruppen, die sich
hauptsächlich an Mao oder Che Guevara orientierten, übernahmen die
Funktion, die militantesten und aufopferungsvollsten Schichten besonders
aus der bäuerlichen und studentischen Jugend von der Arbeiterklasse zu
isolieren und in aussichtslosen "bewaffneten Kämpfen" der Staatsmacht
regelrecht vor die Flinte zu treiben.
Die meisten stalinistischen Organisationen unterstützen zudem in der
einen oder anderen Form entweder den türkischen oder den kurdischen
Nationalismus und beteiligen sich so trotz aller gelegentlichen Phrasen
über "internationale Solidarität" an der Spaltung der Arbeiterklasse
entlang nationaler Linien.
Das Scheitern aller auf dem bürgerlichen Nationalstaat basierenden
Ideologien macht deutlich, daß die Arbeiter und armen Bauern aller
Nationalitäten und Religionen eine neue, internationale und sozialistische
Perspektive brauchen. Dies erfordert den Aufbau einer Sektion der Vierten
Internationale in der Türkei wie im ganzen Nahen Osten.
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