Lorenz Böllinger: Über die Amoral der Extase
Extase - Angst - Moral
(Beitrag zur Festschrift für
Herbert Jäger)
1. Drogen - der mythische Feind
Es herrscht Krieg. Nicht am Golf, nicht in Bosnien: das sind nur regionale
"Brandherde". Nein, es ist eine neue Art von Weltkrieg, geführt von den U.S.A.
und vielen braven Alliierten, Deutschland diesmal allen voran. Ein Konsens
jenseits der Ideologien: auch das immer noch kommunistische China ist hier mit
dem Klassenfeind, auch Diktaturen sind willkommen in der Phalanx. Erklärter
Feind sind "die Drogen", die Hauptwaffe das Strafrecht. Die
Strafverfolgungsbehörden genießen unermeßliche Zuwächse an Ressourcen.
Bürgerrechte werden allenthalben gekappt, um der mit geschätzten 500 Milliarden
Dollar umsatzstärksten Welt-Industrie, der Drogenkartelle, Herr zu werden.
40%-50% der 1 Million Gefangenen in den U.S.A., davon 80% Schwarze, sitzen wegen
Drogen. Ähnliche Verhältnisse in Deutschland. Drogenverkehr und -verzehr nehmen
aber trotzdem ungebremst zu. Das erscheint aus der in den urbanen Zentren
zunehmend sichtbaren Drogenverelendung und -prostitution, den immens gestiegenen
Zahlen von "Drogentoten", der Zunahme an abgefangenen Drogentransporten usw.
erschließbar. Die beiderseitige Aufrüstung eskaliert also weiter.
Sieht
man die verwahrlosten, verelendeten Fixer dann auch noch mit eigenen Augen, so
erscheint die medienöffentlich verbreitete Botschaft prima facie evident: So was
kommt von sowas. Das Elend kann nur von den Drogen kommen. Und es muß was dran
sein an der väterlich-beschützenden Politiker-, Popen- und Pädagogen-Suada (den
paternalistisch-protektiven Parolen) von der elementaren Bedrohung der
Gesellschaft, des Staates, ja der Menschheit. Vom "Ungeist", von "teuflischen
Drogen", von der "Geißel" oder "Pandemie", der Welt-Seuche, ist die Rede. Noch
eine Apokalypse gefällig neben 3. und Um-Welt?
Geradezu biblische
Imagines! Jedenfalls Vorstellungen, Phantasien und Empfindungen aus
irrationalen, vorwissenschaftlichen Zeiten. Wenn nicht da auch eine "scientific
community" wäre, welche diesen prima facie-Evidenzen wissenschaftliche Weihe zu
verleihen scheint. Z.B. empirische Forschungsergebnisse über Zunahme von
Erstgebrauch; psychopathologische Theorien über Sucht als "frühe Störung" oder
Psychopathie-Variante; pharmakologische Theorien über
irreversibel-physiologische Drogenwirkungen.
Folgerichtig hat der Staat
die Pflicht, seine Bürger vor eigenem und fremdem Drogengebrauch zu schützen und
das die "Volksgesundheit" bedrohende Übel auszumerzen. Auch wenn der Konsum
illegaler Drogen an sich nicht unter Strafe steht, so wird doch faktisch auch
der Gebrauch kriminalisiert, weil sämtliche Umgangsformen, die Voraussetzung des
Gebrauchs sind, unter Strafe stehen. Also wird der Bürger bevormundet und vor
sich selbst geschützt. Legitimiert wird das außer mit Gesundheitsschutz mit der
Erwägung, daß derjenige, der sich seiner Freiheit entschlägt, die
Freiheitsrechte verwirkt.
Sind wir auf dem richtigen Weg und brauchen
lediglich noch mehr Waffen? Oder ist alles Don-Quijotterie? Ich will mich mit
den Evidenzen an dieser Stelle nicht auseinandersetzen, gar nicht erst den
Versuch machen, sie ein für alle Mal zu widerlegen. Ich möchte statt dessen ein
methodologisches Verständigungsangebot zur Grundlage weiterer Überlegungen
machen:
Zum einen müßten wir uns auf der epistemologischen Eben einigen
können, daß ein hinreichend differenzierender Prozeß der Klärung, ein
vielfältiger und vielschichtiger wissenschaftlicher Diskurs im Sinne einer
Annäherung an komplexe "Wahrheit" bezüglich "der Drogen" noch nicht
stattgefunden hat.
Zumindest besteht die nicht geringe
Wahrscheinlichkeit, daß wir es bei den präsentierten "Evidenzen" nicht mit
Wahrheit im Sinne der geltenden methodologischen Paradigmen zu tun haben:
Falsifizierungen des herrschenden Drogen-Paradigmas sind zumindest teilweise
gelungen; komplexe materialistische oder psychoanalytische Herangehensweisen
deuten in dieselbe Richtung, daß die linear-kausale Erklärung der
Drogenwirkungen mit der Drogensubstanz jedenfalls simplistisch und
reduktionistisch ist. Wir bedürfen - aus welcher epistemologischen Sicht auch
immer - differenzierterer und komplexerer Theorien.
Wissenschaftlicher
Konsens besteht denn auch im Grundsatz über das interaktionelle, zumindest aber
multifaktorielle Geschehen, welches gesellschaftlichen Phänomenen zugrundeliegt.
Nür über Gewichtungen streitet man. Weitgehende Übereinstimmung gibt es zudem im
Bereich der Kriminalwissenschaften und Kriminalpolitik, daß Strafrecht - wenn
überhaupt - als alleiniges Mittel zur Lösung sozialer Probleme nicht taugt.
Gewichtige Gründe, Forschungsergebnisse, Theorien sprechen vielmehr dafür, daß
es sich bei dem "Drogenproblem" um die Erscheinungsform tiefgründender Inhalte
handelt. Es geht um ein im doppelten Sinne gesellschaftlich konstruiertes
Problem: die Problemrealität hat gesellschaftliche Bedingungen und steht in
einem nur analytisch lösbaren Wechselwirkungszusammenhang mit deren
gesellschaftlicher Wahrnehmung. Diese doppelte Vermittlung gilt es zu
reflektieren und gleichsam als mathematische Unbekannte ins Kalkül
einzubeziehen.
Die Betrachtung der "gesellschaftlichen
Problemkonstruktion" umfaßt eine Analyse der vielfältigen und interaktionellen
Bedingungen von Drogenkonsum. Diesen Aspekt will ich hier nur grob skizzieren:
Die zufällige Entdeckung von und bewußte Suche nach psychotropen Substanzen,
sowie deren Nutzung und fortwährende Raffinierung/Perfektionierung erscheint als
anthropologische Konstante seit Anbeginn der Entwicklung des "homo sapiens" -
des "schmeckenden" (!) Menschen. Als vorgegeben erachten kann man sowohl die
physiologische als auch psychologische Disposition des Menschen (und vieler
Tiere) für vielfältige psychotrope, über das zentrale bzw. vegetative
Nervensystem vermittelte Affekt-Zustände von Erregung, Erregungsdämpfung,
Hochgefühl, Rausch, Extase usw. Ist bei einer z.B. durch Messerstich
verursachten Körperverletzung die Kausalität noch eindeutig linear, so gilt dies
schon in weit geringerem Maße bei durch bestimmte Erreger bewirkten spezifischen
Krankheitssymptomen: physiologische Eigenheiten und das seinerseits durch
Sozialisation und aktuellen sozialen Kontext determinierte Psycho-Immun-System
sowie die innerpsychische Sekundär-Verarbeitung der Krankheit bedingen die
konkrete Ausgestaltung der Symptome. Dementsprechend spricht das Individuum auch
in spezifischer Weise auf die auf den Erreger oder die Symptomentwicklung
abzielende medikamentöse Einwirkung an. Weit stärker entkoppelt erscheinen
"Ursache" und Wirkung bei unspezifisch auf das zentrale bzw. vegetative
Nervensystem einwirkenden, psychotropen Pharmaka.
Relativ wenige der
Zusammenhänge zwischen Krankheitserreger bzw. Pharmakon einerseits und
Körperprozeß bzw. Symptom andererseits sind weitergehend als nur auf der
Erscheinungsebene erforscht. Zumeist handelt es sich um widerlegliche
medizinisch-theoretische Vermutungen und Konstruktionen. Vielfach werden sogar
die Krankheitserreger lediglich postuliert (z.B. bei den Psychosen). Je lockerer
zudem der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, je mehr "intervenierende
Variablen" anzunehmen sind, desto ungesicherter die Theorie. Bei vielen
pharmakologischen Interventionen weiß der Behandler buchstäblich nicht, warum
und wie die Substanz wirkt. Zumindest stützt man sich auf noch nicht
verifizierbare Hypothesen. Dies gilt erst recht für die psychotropen Drogen, wo
zudem die Vermutung begründet ist, daß sie vielfach körpereigene Substanzen,
z.B. die sog. "Endorphine", parallelisieren oder ersetzen, somit also lediglich
ein dem Organismus eigenes, garnicht so "exogenes" Potential gleichsam künstlich
substituieren, imitieren oder aktivieren. Damit ist noch nichts über mögliche
Schadenswirkungen gesagt, nur, daß die individuelle Wirkung im Sinne eines
Filterungsprozesses durch die spezifische subjektive Realität und Wahrnehmung
mit Sicherheit verschieden ist.
Bei manchen Drogen ist ein
Abhängigkeitspotential wissenschaftlich gesichert, soweit sich das in Begriffen
von Entzugserscheinungen definieren läßt. Im übrigen sind aber auch das
innerpsychische Erleben von und die Reaktion auf Abhängigkeit individuell
spezifisch - ähnlich der spezifischen Verarbeitungsweise von anderen äußeren
Einflüssen. Die individuelle Reaktion auf Drogen und der Verlauf der eventuellen
Abhängigkeit sind bedingt durch eine Wechselwirkung von Droge, Set und Setting.
Damit rückt schon die rein pharmako-psychologische Perspektive den situativen
und zeitlichen sozio-genetischen Aspekt, die Querschnitt- und
Längsschnittanalyse mit ins Zentrum der Betrachtung. Ein Beispiel: Unabhängig
vom persönlichten "Set", z.B. einer individuellen Animierbarkeit und
Suchtdisposition, variiert das Ausmaß des Genusses - und der Gefahr - z.B. eines
hervorragenden Weines je nachdem, ob ich ihn in einem edlen Weinlokal in
gemütlicher Abendrunde genieße oder ob ich ihn auf der Flucht vor der Polizei
auf einer stinkenden Bahnhofstoilette sturzartig aus der Flasche saufe, der ich
mangels geeigneten Korkenziehers in der Eile den Hals abgeschlagen
habe.
Das "Setting", die konkrete äußere Drogenkonsumrealität, wird
maßgeblich durch die gesellschaftliche Betrachtungsweise und Reaktion auf dieses
Verhalten bestimmt. Zu untersuchen ist also der andere genannte Aspekt: die
"Gesellschaftlich konstruierte Wahrnehmung" und Verarbeitung des Drogenproblems.
Kriminologisch ausgiebig erforscht ist die dysfunktionale, kontraproduktive und
zirkuäre Auswirkung der kriminalisierenden Drogenprohibition. Zugleich ist aus
medizinisch-pharmakologischer sowie soziologischer Sicht evident, daß viele der
illegalen Drogen unter geeigneten Bedingungen risikolos konsumiert werden können
und daß auch der selbstbestimmte Ausstieg aus der Abhängigkeit möglich und nicht
unwahrscheinlich ist.
Einwand: Die Gefahren von Mafia, "Organisierter
Kriminalität" und "Makrokriminalität" von Staaten, die von Drogenkartellen
unterwandert sind oder Drogenhandel treiben um sich zu refinanzieren oder andere
Staaten zu destabilisieren, wie z.B. die U.S.A. Nicaragua, sind die nicht real?
Zum einen handelt es sich bei der Mafia und dem "Organisierten Verbrechen" ja
nicht um eine straff geführte weltweite Verschwörung, sondern um die Summation
der Erscheinungen kapitalistischer Grenzmoral. Immer wieder kommt man ansonsten
auf den destruktiven Zirkel: Prohibition ist eine wesentliche Existenzbedingung
der Mafia.
Sicher waren psychtrope Drogen mit der Entwicklung
menschlicher Kulturen zunehmend auch ein Mittel sozialer Integration und
Kontrolle. Sie waren aber wohl eher in konstruktiver, positiver Weise
eingebettet in gesellschaftliche und kulturelle oder subkulturelle Rituale, wie
das heute mit den legalen Drogen weiterhin der Fall ist. Die Vermutung liegt
nahe, daß erst mit der latenten Entwicklung der bürgerlich-industriellen
Gesellschaft die Drogen zum negativen Bezugspunkt sozialer Integration wurden.
Letzes Beispiel: das durch den U.S.-Supreme-Court bestätigte Verbot der
Verwendung der kulturell und religiös tiefverwurzelten Naturdroge Peyote durch
die amerikanischen Ureinwohner.
Im aktuellen "Krieg gegen die Drogen"
wiederholt sich jedenfalls zum x-ten Mal der obrigkeitliche Versuch, den Umgang
mit irgendeiner psychotropen Droge strafrechtlich oder sonstwie gewaltsam
auszumerzen: im Mittelalter waren zeitweilig und in verschiedenen Ländern
"kulturfremde" Drogen wie Kaffee, Tee, Alkohol und Tabak kriminalisiert bis hin
zur Todesstrafe. All diese Verbote mußten dem massiven "Basisdruck" faktischen
Massenkonsums weichen, nicht etwa der bewußten Einsicht in ihre Unschädlichkeit.
Dasselbe Schicksal hatte - wie hinreichend bekannt - die Alkoholprohibition in
den U.S.A. und anderen Ländern.
Ich lege also hier die These zugrunde:
Nicht die Drogen sind in Wirklichkeit das Problem, sondern die herrschende
Drogenpolitik erzeugt die sichtbare Drogenkatastrophe.
2. Die Abwehr gegen wissenschaftliche Aufklärung
Die U.S.A. verstehen sich als Prototyp einer kapitalistischen Gesellschaft, die Liberalismus und Pragmatismus auf ihre Fahnen geschrieben hat. Dem folgt, mit einer mehr sozialen Note, die Bundesrepublik. Selbst wenn man das gesetzgeberische Drogenprohibitions-Motiv "Schutz der Volksgesundheit" als aufrichtig voraussetzt, werden folgende Frage immer drängender:
- Warum führt das evidente Scheitern der Drogenpolitik immer nur zu einem "Mehr-von-Demselben"? und nicht zu einer Revision der Politik?
- Warum werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse von der Politik nicht wahrgenommen?
- Warum werden die eklatanten Widersprüche im Umgang mit legalen und illegalen Drogen angesichts der sichtbaren Verelendung der Endkonsumenten nicht wenigstens unter grundrechtlichen und humanitären Aspekten problematisiert?
Kaum je wird in der offiziellen Politik oder in den Gesetzesmaterialien
der Versuch unternommen, die Gefährlichkeit oder das Böse "der Drogen" genauer
zu benennen oder herzuleiten: es wird a-priorisch vorausgesetzt. Auch im Haager
Abkommen von 1912, welches die U.S.A. dem Rest der Welt faktisch diktierten,
sind außer der Suchtqualität der Opiate und des Kokains keine substantiellen
Begründungen eigen.
Offenbar war seinerzeit die Sucht als die erst
allmählich erkannte, mittelbare Drogenwirkung das Bekämpfte. Damit ist der Feind
höchst abstrakt und, auch metaphorisch gesehen, vergeistigt konzipiert. Die
unmittelbare Drogenwirkung, die ja von Substanz zu Substanz sehr unterschiedlich
ist, scheint bei der Verbotsbegründung keine ausdrückliche und bewußte Rolle
gespielt zu haben.
Damals mag im Bewußtsein der U.S.-Drogenpolitiker das
Schema der Sucht-Gefahr - analog der Seuchen-Gefahr - maßgeblich gewesen sein.
Mittlerweile verfügen wir über differenzierteres Wissen über die illegalen wie
über die legalen Drogen, so daß deren Dichotomisierung ebenso obsolet geworden
ist wie diejenige zwischen harten und weichen Drogen. Zum einen erscheint für
viele Substanzen die Suchtgefahr widerlegt oder zumindest relativiert. Zum
anderen ist der Suchtbegriff selbst höchst relativ bzw. normativ konstruiert.
Gibt es doch in der Gesellschaft eine Unzahl von "Süchten", die von diversen
Interessenten "entdeckt" und bekämpft werden.
Trotz aller Aufklärung und
Rationalität, trotz Pragmatismus und Kosten-Nutzen-Optimierung, trotz Humanismus
und Menschenrechtsorientierung der modernen, sich zivilisiert verstehenden
Gesellschaften weisen die Konzepte und Metaphern im Zusammenhang der illegalen
Drogen mehr denn je den Charakter von Mythen auf. Sie erscheinen resistent gegen
Aufhellung und Entmsystifizierung.
Ich sehe sowohl in Politik wie in
Justiz und Wissenschaft ein erhebliches Maß an Abwehr verfügbarer
Wissensbestände, an Vermeidung sinnvoller alternativer Lösungsversuche. Ich sehe
so etwas wie ein offiziell verordnetes Denkverbot. Das nenne ich
Mystifizierung. Zugleich werden bestimmte überkommene Deutungsschablonen
als "eherne Wahrheit" präsentiert: Das nenne ich Mythisierung.
Schließlich werden diese Inhalte in Kategorien von Gut und Böse verortet und
selbstgerecht mit allen Mitteln von Politik und Pädagogik sanktioniert: Das
nenne ich Moralisierung. Dieser Dreiklank konstituiert eine spezifische
Herrschaftstechnik.
Zwar sind wissenschaftlicher und politischer Dissens,
eine zunehmende Strömung für "Akzeptierende Drogenarbeit" möglich. Jedoch
scheinen mir nach wie vor die Kräfte für eine Prohibition der jetzt illegalen
Drogen zu überwiegen. Ist der Impuls, psychotrope Drogen strafrechtlich
kontrollieren zu wollen, unausrottbar?
Selbst wenn mir der Leser in
meiner Skizze des "wahren" Entstehungszusammenhangs des Drogenproblems nicht
zustimmt, erbitte ich doch - im Sinne einer wissenschaftlichen Kultur des
Zweifels - die Bereitschaft zu einem Gedanken-Experiment. Nämlich mir probeweise
in der Untersuchung folgen zu wollen, wie es in Gesellschaften, die sich dem
"Projekt der Moderne" - Rationalität, Humanismus, Pragmatismus - verschrieben
haben, zu diesen kontrafaktischen Denkverboten, Mystifizierungen, Mythisierungen
und Moralisierungen kommt.
Kritisch-materialistischen,
funktionalistischen oder sozialpsychologischen Denkansätzen folgend könnten wir
fragen, welchen spezfischen, bisher nicht evidenten Nutzen der Staat aus der
herrschenden Drogenpolitik zieht, so daß vorhin skizzierte Schadensbilanz,
entkräftet wird. Sicherlich ist die Stilisierung einer Problemgruppe zu
gefährlichen Außenseitern "sozio-hygienisch" konzipierbar im Sinne einer
Verstärkung von Konformität und Normbewußtsein, stellvertretender Abfuhr von
Aggressivität etc. Diese Funktionen leistet aber schon die "normale"
Kriminalisierung. Die "besondere" Bedrohung, die der Drogengefahr und den
Drogenkartellen zugeschrieben wird, dient sicher auch als guter Vorwand bzw.
Verschiebungsersatz für die immanente und generelle Tendenz des Staates zur
Kontroll-Intensivierung und zur Ablenkung von den eigentlichen sozialen
Problemen und Krisen. Verschiebungsersatz ließe sich jedoch auch anderswo
ausreichend finden, z.B. in der Gruppe der Ausländer. Solche Deutungen scheinen
mir mithin nicht auszureichen, um die Irrationalität des herrschenden Systems zu
verstehen.
Nun sind viele soziale Prozesse auf der rein
kognitiv-rationalen Ebene nicht erklärbar. Es bleibt, sie mit den Mitteln der
Analyse unbewußter Prozesse zu verstehen. Wir könnten zu diesem Zweck versuchen,
wie FREUD es vorschlägt, die konkreten sozialen Phänomene wie die Symptome der
Individualneurose als Erscheinungsform einer zugrundeliegenden Störung anzusehen
und von dort mit Hilfe der psychoanalytischen Sozialpsychologie auf die Genese
derselben zurückzuschließen.
Man könnte also mit einer Reflexion der
Kriegs-Metapher beginnen: Wer ist eigentlich "der Feind"? Die Drogen? Ihre
Hersteller? Ihre Gebraucher? Faktisch treffen die Strafrechts-Geschütze ja zu
80% die Gebraucher mit der Folge, daß eine nicht so kleine Gruppe der
Gesellschaft wird der Verelendung preisgegeben wird. Ausgeübt wird die massive
kollektive Gewalt nicht so sehr gegen die sog. Hintermänner, sondern gegen die
Endverbraucher.
Zwar sind es allemal Substanzen, die von Menschenhand
höchst diesseitig zubereitet, erzeugt und genossen werden. Gleichwohl sind es
"Die Drogen", die in numinoser Suggestion als zu bekämpfende, jenseitige
Feindesmacht gekennzeichnet werden, ein zur "Drogen-Pest" und "Geißel der
Menschheit" stilisiertes, Phantom. Also sind sind doch sie der eigentliche
Kampfesgegner. Es ist zum einen in der kollektiven subjektiven Widerspiegelung
der Politikinhalte eine dunkle, ominöse, schrankenlos sich ausdehnende und
vernichtende böse Macht. Es ist zum anderen gesellschaftlich-öffenntlich
erlebbar als eine Art Partisanen-Macht, die sich unsichtbar ausbreitet, den
Staat "von innen" her vergiftet ("Rauschgift"), aushöhlt und zerstört. Durch
solche Zuschreibungen bekommen die Drogen zugleich aber - wie der "spirit" des
Alkohols - etwas sehr abstraktes, vergeistigtes, das an das Mythische der "Bösen
Geister" und Dämonen gemahnt. Im polaren Gegensatz zum "Guten Geist", zum
"lieben Gott", sind sie des Teufels, Incubus, das Böse per se, von dem
insbesondere die Drogenabhängigen besessen sind.
So signalisiert denn
auch die heutige Drogen-Kriminalisierung: von bestimmten Drogen muß man absolut
abstinent bleiben, jedwede Berührung mit diesem Bösen per se vermeiden.
Bereits der "erste Schuß" - der Feind schießt immer zuerst, wenn man sich nicht
wappnet! - zieht Sucht und unwürdigen Tod in der Gosse oder auf der
Bahnhofstoilette nach sich. Der selbstverschuldet Unmündige muß wie der
"Geisteskranke" davor geschützt werden, sich der teuflischen Besessenheit
auszuliefern. Dem entsprechen insbesondere neuerdings debattierte
"Lösungsvorschläge" einer quasi unterbringungsrechtlich zu realisierenden
Zwangstherapie, also Teufelsaustreibung, für alle Fixer.
3. Drogen-Tabu und Drogen-Moral
Die illegalen Drogen haben durch solche Stilisierung mehr und mehr den Charakter eines apriorischen und absoluten Unwerts, von etwas naturgegeben Dämonischem erhalten. Dieses fraglos Böse ist nicht mehr weiter hinterfragbar oder begründbar, es ist ebenso unberührbar wie das fraglos Gute, das Göttliche, es ist ein Tabu. Tabu, ein ursprünglich polynesisches Wort, bedeutet nämlich
"einerseits: heilig, geweiht, anderseits: unheimlich, verboten, unrein. .... Die Tabubeschränkungen sind etwas anderes als die religiösen oder moralischen Verbote. Sie werden nicht auf das Gebot eines Gottes zurückgeführt, sondern verbieten sich eigentlich von selbst; von den Moralverboten scheidet sie das Feheln der Einreihung in ein System, welches ganz allgemein Enthaltungen für notwendig erklärt und diese Notwendigkeit auch begründet. die Tabuverbote entbehren der Begründung; sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen verständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen."
Der heutigen Zeit entsprechend wird das Drogen-Tabu natürlich nicht als
solches deklariert, ja es ist als solches nicht bewußt. Es manifestiert sich als
"gesichertes Wissen", als "sichere Überzeugung", "eindeutige Meinung", geladen
mit einem Empfinden wie "Das weiß man einfach!" Dementsprechend wird auch nicht
hinterfragt. Es hat - bezogen auf das Individuum - durchaus den Charakter von
Selbst-Gewißheit, von Weltanschauung und Gewissen und - bezogen auf die
Mitglieder einer entsprechenden Gruppe oder Gesellschaft - einer
sozialintegrierenden Gruppenmoral.
Durch den Prozeß der Moralisierung
wird das Tabu gleichsam operationalisiert, in Kategorien von Gut und Böse bzw.
entsprechende Handlungsanweisungen umgesetzt. Dabei kann dann durchaus eine
scheinbar empirische oder rationale Begründung präsentiert werden. So heißt es:
Drogen schädigen die Gesundheit bzw. die "Volksgesundheit". Daß damit der
Tabu-Charakter nicht wirklich aufgehoben ist, sehe ich dadurch bestätigt, daß
die Realität dieser Behauptung nicht systematisch nachgeprüft wird, daß sofort
"Lager" und "Fronten" gebildet werden, statt einen rationalen Diskurs zu führen,
daß Zweifler und Dissidenten in die Ecke von "Volksverführern" gestellt werden
und daß die inhumane Verelendungspolitik beibehalten wird. Insofern
unterscheidet sich die Tabuisierung der illegalen Drogengebraucher qualitativ
von der Ausgrenzung der "normalen" Kriminellen: dabei wie bei der
überschießenden Kriminalitätsfurcht handelt es sich eher um politisch
funktionalisierbare kollektiv-neurotische Mechanismen der unbewußten Erregung
und der Projektion von dissozialen Handlungsimpulsen.
Die Prozesse der
Moralisierung können sich auf der Grundlage desselben Tabus insoweit
differenzieren, als partikulare Moralen mit verschiedenen Inhalten bei gleichem
Resultat entstehen. Z.B. die mit biblischer Letztbegründung gestützte klerikale
Moral oder protestantische "Pflicht-Ethik", die "Arbeitsmoral" des
Kleinbürgertums, die um die politische Kampfkraft der Arbeiterklasse fürchtende
"Linke Moral", die "Betriebs-Moral" eines Unternehmens, oder die
"Familien-Moral" eines traditionsbewußten Clans. Es ist nicht schwer, die
politische und ökonomische, die machtsichernde Funktionalität solcher Moralen zu
durchschauen: politische Folgebereitschaft und Konformität kraft klarer
moralischer Vorgaben, Denkverbote und Sanktionen; Erhalt der Fabriktugenden wie
Gehorsam, Produktivität, geringe Fehlzeiten, geringe Streikbereitschaft etc.
Dem entsprechen die Manipulationstechniken des heutigen "Zeitgeists":
Public relations, "Corporate Identity", Prämiensysteme etc. Letztlich findet die
am meisten generalisierte und durchsetzungsfähigste Moral ihren Niederschlag im
Recht, wobei wiederum die Prozesse der Verrechtlichung soziologisch aufgehellt
werden können.
Regelfall der Moral sind Gebote und Verbote, welche sich
auf den Schutz und Erhalt des Gemeinschaftswesens bzw. -friedens beziehen,
insbesondere auf das Interesse der Bürger, nicht geschädigt zu werden. Ein Teil
moralischer Regeln bezieht sich jedoch auf selbstschädigendes Verhalten. Hier
kann man zunächst den Gedanken nicht von der Hand weisen, im "wohlverstandenen
Interesse" eines als uninformiert oder handlungsunfähig eingeschätzten
Individuums intervenieren zu müssen.
Kategorial zu unterscheiden sind
jedoch zunächst die Situationen, in denen ein Individuum als mündig und
zurechnungsfähig gilt, von denen, wo dies - sei es aufgrund von Jugend, Alter,
Krankheit, Affektzustand etc. - nicht der Fall ist. Im letzteren Fall versteht
sich von selbst, daß das handlungsinkompetente Individuum nicht bestraft wird,
jedoch durch die dafür vorgesehenen regulativen Zwangsmaßnahmen, insbesondere
die öffentlich- oder zivilrechtliche Unterbringung so lange in seiner Freiheit
beschränkt werden darf, wie der Zustand andauert und die Maßnahme
verhältnismäßig ist. Es bleiben lediglich Definitions- und
Abgrenzungsprobleme.
Wenn ein Bürger hingegen im Zustand der Normalität
bewußt und gewollt handelt, dürfen wir nach dem liberalistischen Konzept unserer
Verfassung nicht freiheitsbeschränkend intervenieren. Dem trägt das Strafrecht
ausdrücklich Rechnung: Selbstschädigung ist, selbst in der Extremform des
Suizids, nicht strafbar; deshalb sind nach der Logik unserer Verfassung auch die
Beihilfe zu oder das Untätigbleiben des Garanten bei Selbstschädigung nicht
strafbar. Einen Kompromiß mit dem fürsorgend-bevormundenen Aspekt des
Sozialstaatsprinzips macht unsere Rechtsordnung insofern, als ein sich selbst
schädigender Mensch als krank und mithin "willensmangelhaft" handelnd beurteilt
und somit nicht-strafenden Zwangsmaßnahmen unterworfen werden kann.
Ist
dies aber eindeutig nicht der Fall, wie z.B. bei dem aus Neugier, Frust oder
welchen Gründen auch immer probierenden Drogen-Einsteiger, so muß sich der Staat
mit Zwangsmaßnahmen zurückhalten. Wenn man - die Schädigungshypothese einmal
kontrafaktisch (s.o.) unterstellt - den Bürger mit wohlmeinendem Zwang vom
Gebrauch bestimmter Drogen abhält, verhält man sich wie ein sachlich oder
emotional überlegener Vormund bei passagerer Entmündigung des Objekts. Erst
recht, wenn man ihn zur Duldung einer Intervention in sein Innenleben, zu
Therapie zwingt. Dies ist die "ernsthafte" Art des Paternalismus". Über sein
Rechtsgut Leben und Gesundheit darf der Bürger immer noch selbst verfügen -
außer z.B. wenn er Soldat ist. Deshalb ja auch die Konstruktion des von der
Mutter unabhängigen Rechtsguts "ungeborenes Leben" im Fall der
Abtreibung.
Davon ist die Frage zu sondern, ob Unwissenheit und
Unerfahrenheit eines Bürgers, ein unleugbares Wissensgefälle im Fall des als
unvernünftig und selbstschädigend beurteilten Verhaltens dazu berechtigen, ja
verpflichten, nach bestem Wissen und Gewissen aufzuklären, zu beraten, zu
helfen. Das müßte dann aber ein Prozeß der Verständigung und Einigung zwischen
zwar unterschiedlich kompetenten, aber dennoch gleichrangigen Menschen sein, der
auch nicht von Macht- und Überheblichkeitsgefühlen einerseits bzw.
Unterworfenheitserleben andererseits affektiv gekennzeichnet Diese akzeptable,
"weiche Art des Paternalismus" kann durch außerstrafrechtliche Regulierung
verwirklicht werden, z.B. durch eine Beratungspflicht. Es kann auch zwanglos
durch schlichte Normalisierung gehen: jede medikamentöse Behandlung setzt eine
den ärztlichen Sorgfaltspflichten genügende Untersuchung und Aufklärung des
Patienten voraus. Das würde jedoch die Legalität der Substanzen voraussetzen.
Wenn sich jemand trotz Aufklärung in vollem Bewußtsein selbst schädigen will,
dürfen wir ihn nicht hindern - wir können es auch nicht.
Sicher ist eine
Verhaltensmoral legitim, die dem Individuum aufgibt, sich sozialer Verantwortung
zu stellen, der Gemeinschaft nicht zur Last zu fallen. Nur ist hier die
Grenzziehung so schwierig, daß der Staat im Zweifel auch auf die
außerstrafrechtliche Regulierung (z.B. über differenzierende
Versicherungsbeiträge etc.) verzichten muß. Adäquat erscheint mir einzig die
zivilrechtliche Lösung, die denn auch den größten verhaltensändernden Einfluß
hat, z.B. bei Helm- und Anschnallpflicht: das Mitverschulden des Geschädigten
hinsichtlich des eigenen Schadens. Nur: Voraussetzung ist der Fall einer
Fremdschädigung, wie er bei Drogenerwerb oder -abgabe nicht
vorliegt..
Man muß allerdings immer wieder betonen: Ihre Legitimität
erhält auch die weiche Art des Paternalismus nur aus der Behauptung Tatsache,
daß die Drogen per se gefährlich seien. Ihre Legitimitätsgrundlage verliert sie
da, wo - wie inzwischen hinsichtlich vieler illegaler Drogen gesichert - der
vernünftige Konsum im angemessenen Setting nicht gefährlich zu sein bräuchte,
oder jedenfalls weniger gefährlich als die Massendrogen Alkohol und
Nikotin.
Die entscheidende normative Schaltstelle ist also lediglich, ab
wann man definiert, daß der Bürger durch Drogenkonsum so willensunfähig wird,
daß "hart-paternalistische" Zwangsmaßnahmen angemessen sind. Dieser Frage
braucht hier nicht weiter nachgegangen zu werden, weil hier nur die Frage nach
der Legitimität des Strafrechts Gegenstand ist. Ebenfalls an anderer Stelle wäre
unter dem Aspekt "Herrschaftstechniken der Moralisierung" zu untersuchen, wie
bestimmte Inhalte jenseits von Traditionen moralisiert werden.
Im Fokus
sind hier die Bedingungen der Akzeptanz solcher Moralnormen. Aus psychologischer
Sicht geht es dabei um den Prozeß der Verinnerlichung von Moralnormen, also das
Verstehen und Integrieren des Norm-Sinns im Ich und die entsprechende Übernahme
der äußeren Sanktionsgewalt ins Über-Ich.
Reine Zwangsmoralen lassen sich
auf Dauer nicht durchsetzen, auch nicht in noch so manipulierten
Mediendemokratie, weil es an der Ich-Integrierbarkeit der Inhalte fehlt und mit
reiner Über-Ich-Angst nicht getan ist. Das belegen die Geschichte der Abtreibung
und der Homophobie. Schädlichkeitsmythen sind auf die Dauer nicht kontrafaktisch
aufrechtzuerhalten. Zumindest kristallisieren sich dann in der Gesellschaft
gegensätzliche Moralen und sie vertretende Strömungen und Kräfte, wie z.B. bei
§§ 218 u. 175 StGB.
Es muß tiefer liegende Bereitschaften geben, stark
verbreitete kollektiv-psychologische Dispositionen, welche verstehbar machen,
daß bestimmte Moralen kontrafaktisch haltbarer sind als andere. Ich meine, es
sind jene tabu-begründeten Moralen, welche gegen Aufklärung besonders resistent
sind. Wir müssen also nach den individual- und sozialpsychologischen Bedingungen
der Tabu-Bildung fragen.
6. Das Drogen-Tabu - Unbewußte Gründe und Konsequenzen
Die Zeiten magisch-animistischen Denkens der Naturvölker, denen die Tabus
zuzurechnen sind, sind vorbei, so schien es. Inzesttabu, Todestabu, Sexualtabu
sind unter dem Impakt der Aufklärung geschrumpft und zerbröckelt, erscheinen nur
noch rudimentär. Wie konnte es dann - wenn meine These stimmt - mit Beginn der
Drogenprohibition vor bald 90 Jahren zu einem derartigen Wiederaufleben von
Tabus kommen? Warum sind Tabus offenbar in unterschiedlichem Maße resistent
gegen Aufklärung?
Tabus sind per definitionem anti-aufklärerisch, eine
Erscheinungsform des Nicht-Hinsehen-Wollens. Der Mensch unterliegt der
Suggestion, daß das Tabu sich selbst rächt.
"Wer ein Tabu übertreten hat, der ist dadurch selbst tabu geworden. Gewisse Gefahren, die aus der Verletzung eines Tabus entstehen, können durch Bußhandlungen und Reinigungszeremonien beschworen werden. Als die Quelle des Tabu wird eine eigentümliche Zauberkraft angesehen, die an Personen und Geistern haftet und von ihnen aus durch unbelebte Gegenstände hindurch übertragen werden kann. Personen oder Dinge, die tabu sind, können mit elektrisch geladenen Gegenständen verglichen werden; sie sind der Sitz einer furchtbaren Kraft, welche sich durch Berührung mitteilt und mit unheilvollen Wirkungen entbunden wird, wenn der Organismus, der die Entladung hervorruft, zu schwach ist, ihr zu widerstehen."
Genau dies spielt sich in der öffentlichen, medialen und politischen Reaktion auf Drogen ab: die Suggestion, wenn man auch nur einmal mit Drogen oder dem Drogengebraucher in Berührung komme, sei man verloren. Das zeigt sich z.B. im hellen Entsetzen von Menschen, die auf dem Rathausplatz von Bremen Zeuge einer demonstrativen öffentlichen Heroin-Selbstinjektion zur Unterstreichung der Forderung nach geschützten "Druck-Räumen" wurden. Kaum ein Mensch würde derartiges Aufheben über eine im Krankenhaus beobachtete Injektion machen. Es ist also zunächsteinmal eine Zauberkraft, ein gefährliches und infektiöses magisches Potential, welches den illegalen Drogen zugeschrieben wird. Die Angst vor den Drogen speist sich aus einer offenbar wiederbelebten archaischen "Furcht vor der Wirkung dämonischer Mächte", einer Furcht welche jetzt auf die Drogen verschoben ist. FREUD analogisiert diese Erscheinungsformen mit der Zwangskrankheit:
"Das Haupt- und Kernverbot der Neurose ist wie beim Tabu das der Berührung, daher der Name: Berührungsangst." ... Den Zwangsverboten ist eine großartige Verschiebbarkeit zu eigen, sie dehnen sich auf irgend welchen Wegen des Zusammenhanges von einem Objekt auf das andere aus und machen auch dieses neue Objekt ... 'unmöglich'. Die Unmöglichkeit hat am Ende die ganze Welt mit Beschlag belegt. Die Zwangskranken benehmen sich so, als wären die 'unmöglichsten' Personen und Dinge Träger einer gefährlichen Ansteckung, die bereit ist, sich auf alles Benachbarte durch Kontakt zu übertragen."
Abgesehen von der Selbsteinschränkung durch Verzicht - der geforderten
Abstinenz - findet sich auch die magische Buß- und Reinigungsphantasie des
Zwangskranken im Recht vergegenständlicht. Zum einen die verwirkte Strafe. Das
würde den Wertungswiderspruch miterklären, daß ein Verhalten bestraft wird,
welches in anderen Rechtsbereichen, z.B. sozialrechtlich, als Krankheit gilt.
Zum anderen die stationäre Langzeittherapie, welche insbesondere in der
verbreiteten behavioristischen Form erzwungener Abstinenz und psychischer
Selbstentblößung an den Waschzwang, das häufigste Symptom der Zwangsneurose
gemahnen.
Der entscheidende unbewußte Inhalt des Tabus ist, wenn man der
Analogie zur Zwangskrankheit folgt, die Ambivalenz der Gefühlsregungen. Am
Anfang stand nämlich eine
"starke Berührungslust, deren Ziel weit spezialisierter war, als man geneigt wäre zu erwarten. Dieser Lust trat alsbald von außen ein Verbot entgegen, gerade diese Berührung nicht auszuführen. ... Das Verbot wurde aufgenommen, denn es konnte sich auf starke innere Kräfte stützen; es erwies sich stärker als der Trieb, der sich in der Berührung äußern wollte. Aber infolge der primitiven psychischen Konstitution des Kindes gelang es dem Verbot nicht, den Trieb aufzuheben. Der Erfolg des Verbotes war nur, den Trieb - die Berührungslust - zu verdrängen und ihn ins Unbewußte zu verbannen. Verbot und Trieb blieben beide erhalten; der Trieb, weil er nur verdrängt, nicht aufgehoben war, das Verbot, weil mit seinem Aufhören der Trieb zum Bewußtsein und zur Ausführung durchgedrungden wäre. Es war eine unerledigte Situation, eine psychischen Fixierung geschaffen, und aus dem fortdauernden Konflikt von Verbot und Trieb leitet sich nun alles weitere ab." "Das Verbot verdankt seine Stärke - seinen Zwangscharakter - gerade der Beziehung zu seinem unbewußten Gegenpart, der im Verborgenen ungedämpften Lust, also einer inneren Notwendigkeit, in welche die bewußte Einsicht fehlt. Die Übertragbarkeit und Fortpflanzungsfähigkeit des Verbotes spiegelt einen Vorgang wieder, der sich mit der unbewußten Lust zuträgt und unter den psychologischen Bedingungen des Unbewußten besonders erleichtert ist. Die Trieblust verschiebt sich beständig, um der Absperrung, in der sie sich befindet, zu entgehen, und sucht Surrogate für das Verbotene - ERsatzobjekte und Ersatzhandlungen - zu gewinnen."
Tabus sind also nach FREUD solche Zustände oder Verhaltensweisen, die
unbewußt zutiefst, d.h. triebhaft erstrebt sind, die jedoch zwecks Vermeidung
eines bedrohlichen Konflikts verdrängt und mit der fraglosen Vorgabe der
Unberührbarkeit gegenbesetzt werden. Es muß eine unbewußte Phantasie des
ungefähren Inhalts geben: Wenn ich eine verbotenen Gegenstand berühre, ein
bestimmtes Verhalten ausübe, passiert etwas Katastrophales, nur die absolute
Vermeidung, hilfsweise aber Buße und Reinigung können mich retten. Ambivalenz
bezeichnet also den aus einem befürchteten äußeren Konflikt resultierenden
inneren Konflikt, der durch Verdrängung, Verleugnung, Projektion und
Gegenbesetzung gelöst wird. Die Lösung ist jedoch nur scheinbar, denn die
verdrängte Triebstrebung geht nicht unter, sondern kehrt, wenn auch in den
verschiedensten Formen entstellt, verzerrt, ins Gegenteil verkehrt, auf andere
Objekte verschoben, wieder.
Nun erleben wir viele Strebungen, ohne daß
deren Realisierung als katastrophal in ihren Auswirkungen phantasiert wird. Es
muß bestimmte Triebstrebungen geben, die wegen ihres Inhalts verdrängt werden.
FREUD nennt in diesem Zusammenhang zum einen die Berührung der Genitalien. Zum
anderen führt er den Neid an: Wir verzichten auf etwas, von dem wir annehmen,
daß mir die anderen das ebenso neiden, wie ich ihnen das neiden würde. Am
Beispiel der Macht des Königs verdeutlicht er, daß die Übertretung des
Tabuverbots, nämlich die Berührung des Königs, die Usurpation der Macht,
eine
"soziale Gefahr bedeutet, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft gestraft oder gesühnt werden muß. Diese Gefahr besteht wirklich, wenn wir die bewußten Regungen für die unbewußten Gelüste einsetzen: Sie besteht in der Möglichkeit der Nachahmung, in deren Folge die Gesellschaft bald zur Auflösung käme. Wenn die anderen die Übetretung nicht ahnden würden, müßten sie ja inne werden, daß sie dasselbe tun wollen wie der Übeltäter."
Nun besteht aber hier die Gefahr des Zirkelschlusses: wenn etwas als
strafwürdig empfunden wird, bedroht es die Gesellschaft, wenn das massenhaft
praktiziert wird, und weil es die Gesellschaft bedroht, muß es für strafwürdig
erklärt werden. Was ist aber das spezifisch gefährliche? Warum wird ein
bestimmtes Verhalten so beneidet und nicht jedes andere, was ist der Inhalt, was
das Ziel der Triebstrebung? Wenn es nicht etwas ganz besonders Reizvolles,
Lustvolles, Extremes wäre, gäbe es keinen Anlaß andere darum zu beneiden oder
den Neid der anderen zu fürchten.
Zu der Phantasie muß gehören: Wenn ich
dem anderen antue, was ich ihm primär antun möchte, wird er mir dasselbe antun.
Oder: Wenn ich dem anderen das Begehrte wegnehme, werde ich dafür ebenso
bestraft, z.B. mit der Tötung, wie ich umgekehrt den Impuls habe, denjenigen zu
strafen, der mir das Begehrte wegnimmt.
Dabei handelt es sich um den
Mechanismus der Projektion: verpönte, ängstigende Impulse werden auf dafür sich
eignende Objekte verlagert und in diesen bekämpft und ausgegrenzt. Dabei geht es
um die "klassischen" Tabus, nämlich Inzest bzw. Exogamiegebot und Tod bzw.
Tötungsverbot. Diese sind - im Rahmen des psychoanalytischen Paradigmas -
abzuleiten aus den postulierten Trieben Libido und Destrudo (Aggressionstrieb),
deren Zusammenhang FREUD im Ödipus-Komplex sah. Danach liegt das Inzesttabu den
Sexualtabus zugrunde: jegliche Sexualität ist Verschiebungsersatz für die
verpönte Ur-Phantasie und der damit einhergehende phantasierte Vatermord ist
scheinbarer Ausgangspunkt jeglicher Aggressivität und Rivalität.
Zwar hat
die Sexualmoral sich im 20. Jahrhundert grundlegend geändert. In der heutigen
Modellierung der Sexualitäten, in der zunehmenden Entsublimierung, zeigt sich
aber auch ein begrenzendes, repressives Strukturelement der "neuen" Sexualmoral:
Sexualität wird im Maße der gesellschaftlichen Thematisierung auch
konfektioniert, zum steuernden "Dispositiv der Macht". Masturbation ist die
erste rein lustorientierte, nicht von der Fortpflanzungsmoral (zu-)gedeckte
sexuelle Praxis, die der Sexualmoral zum Opfer fällt.
"Narkotika zum
Ersatze - direkt oder auf Umwegen - des mangelnden Sexualgenusses bestimmt sind,
und wo sich normales Sexualleben nicht mehr herstellen läßt, da darf man den
Rückfall des Entwöhnten mit Sicherheit erwarten."
Die Drogen werden
insofern vom - seinerseits aus dem Inzesttabu hervorgegangenen - Sexualtabu
erfaßt, als sie - zumindest in der Phantasie - mit Kontrollverlust und Extase,
mit grenzenloser Steigerung der Lust in Verbindung gebracht werden. Dem Moment
des Orgasmus, den Sekunden der Extase wohnt - gleich der beglückenden, die
Realität ausblendenden Drogenwirkung - die Sehnsucht nach Wiederholung,
Steigerung, Auf-Dauer-Stellung inne, die Phantasie allmächtig und gottgleich
über dieses Hochgefühl und extatische Potential verfügen zu können. Die ewige
Suche nach dem absoluten Aphrodisiakum - mindestens ebenso intensiv betrieben
wie die Suche nach der chemischen Synthese des Goldes - verweist auf diese
Phantasiezusammenhänge ebenso wie Geheimkulte de Sade`scher Manier oder
hochritualisierte Sexualkulturen wie die Liebes- und Extasekulte des Tantrismus,
die im alten Indien mindestens seit dem 6. Jahrhundert bis zur Eroberung durch
die Briten praktiziert wurden. Als Tatsache erscheint jedenfalls nach
Erfahrungsberichten und psychoanalytischem Material, daß sexuelles Erleben zum
einen jenseits der gesellschaftlich lizensierten Verhaltensmuster durchaus
Ich-gerecht formbar und bis zu einem gewissen Grade steigerbar ist, ohne daß man
dabei hinsichtlich Triebobjekt und Triebziel von Sexualpathologie sprechen
könnte. Zum anderen können bestimmte Drogen insofern zu solchem Erleben
beitragen und sind in vielen Kulturen insofern auch als Aphrodisiakum genutzt
worden, als sie passager das Über-Ich entlasten und Lustpotentiale freisetzen.
In diesem Zusammenhang sind auch Faszination und Furcht bezüglich
sexuellen Perversionen zu verstehen: Bei aller Empörung oder Pathologisierung
schwingt doch auch die Sehnsucht nach der absoluten Steigerung und Perpetuierung
der sexuellen Extase mit, und der Verzicht auf die "sauren", weil unerreichbaren
"Trauben".
Umgekehrt werden - vor allem im Zeichen von AIDS - Praktiken
zum Bestandteil akzeptierter offizieller Sexualmoral, die vorher den
Perversionen zugerechnet wurden: z.B. Peep-Show, Telefon-Sex. Sie schalten
virtuell das in zwischenmenschlicher Sexualbeziehung allemal schlummernde
Extase-Potential aus, heben aber in der perversen Inszenierung etwas von der
zugrundeliegenden Extase-Sehnsucht auf, die zugleich durch die gesellschaftliche
Schablonisierung, durch die am Telefon ausgetauschten Sexualklischees wieder
begrenzt wird.
Die von FREUD herausgearbeitete Analogie der
Abwehrmechanismen bei der Zwangskrankheit und bei den Tabus, insbesondere der
Verschiebung, kann man hier bestätigt sehen: Die Warnung vor der Droge
beinhaltete immer schon die Phantasie, unter Drogeneinfluß leichter verführbar
zu sein. Diese bewußte Bedeutung ist in der allgemeinen Drogophobie praktisch
verschwunden bzw. ebenfalls verdrängt worden und durch die Phantasie ersetzt
worden, es drohe sozusagen direkt von der Droge der Tod. Die Sehnsucht und Suche
nach sexueller Extase wird im Zuge der sich immer weiter verallgemeinernden und
verschiebenden Abwehr selbst als Suchtform denunziert und negativ
normiert.
Schon an dem biblischen Mythos vom Sündenfall, an der Symbolik
des Genusses des tabuisierten Apfels, knüpft das "Rauschgift-Tabu" an: Vom Baum
der Erkenntnis, d.h. der Innewerdung des Sexuellen, darf nicht gegessen werden.
Dabei schmeckt der homo sapiens eben so gerne. Auch die Alkohol-Intoxikation von
Sodom und Gemorrha enthält diese Metaphorik der todbringenden sexuellen
Enthemmung aufgrund berauschender Substanzen sowie das Ergriffenwerden von
diesem Tabu durch schlichtes Ansichtigwerden: Augen sind die ersten
Sexualorgane. Wobei im Mythos ironischerweise zugleich der sexuelle Inhalt zum
Ausdruck kommt: ist doch die Salzsäule, zu der man erstarrt, auch ein
Penis-Symbol.
Ich meine jedoch, daß diese Ansiedelung der Kausalgenese
der Drogophobie in der ödipalen Entwicklung nicht ausreicht, die Intensität der
Angst, die Haltbarkeit des Mythos, die Empfänglichkeit für anti-aufklärererische
Mystifizierung zu verstehen.
Dabei handelt es sich nämlich
psychogenetisch nur um die sekundäre Bedeutung von Drogen. Davor sehe ich eine
primäre: Es gibt genetisch noch früher einzuordnende Trieb-Erlebnisse und
allererste Abwehrformen, welche das Drogen-Tabu mitbedingen.
Die oralen,
nasalen, intravenösen Applikationsformen illegaler Drogen verweisen jenseits
ihrer praktischen Funktionalität im Sinne optimaler Drogenwirkung symbolisch auf
subjektives Erleben präödipaler Entwicklung. So erscheint schon das biblische
"Schmecken" des vergifteten Apfels als symbolische Bezugnahme auf Gestilltwerden
und Abgestilltwerden des Säuglings durch die Mutter. Auch das Gewalt-Tabu ist im
Verlauf des "Prozesses der Zivilisation" (ELIAS) eher noch strikter geworden.
Wenngleich hier auch widersprüchliche Tendenzen der Entsublimierung zu
beobachten sind (z.B. nationalsozialistische Gewaltverbrechen), so scheint dies
doch auf eine archaische Qualität der unbewußten Gewaltphantasien hinzudeuten,
nämlich auf eine Entwicklungsphase, in der eine Fusion und Amalgamierung von
libidinösen und aggressiven Strebungen überhaupt noch nicht stattgefunden hat,
sondern ein Stadum der Aufspaltung von polaren Gegensätzen herrscht, auf das
unter bestimmten Bedingungen (Psychose, Droge, Affektzustand, Therapie)
regrediert werden kann.
Als Ur-Erleben, Ur-Phantasie und mithin
undifferenzierter Ur-Quell der Triebkräfte postuliere ich im Sinne der modernen
psychoanalytischen Entwicklungstheorie das Eins-Sein mit der Mutter als totales
und maximales Lust-Gleichgewicht. Nach dem Ur-Trauma der Geburt als primärem
Gewalt- und Angsterleben ist die Sehnsucht nach dem narzißtischen Primärzustand,
nach der Wieder-Verschmelzung mit der Mutter ewiger Regressionsfokus. Es gibt
eine Ur-Ambivalenz der Mutter gegenüber: einerseits die paradiesische Erfahrung
des Eins-Seins mit der versorgenden Lebensspenderin und die Hoffnung auf die
Wiederkehr dieses Zustandes totaler Fusion; andererseits die Urerfahrung der
mütterlichen "Gewalt" im Geburtsvorgang und in der Macht zur Versagung sowie die
Angst vor dem Verschlungenwerden. Die aus der zunehmend unvermeidlichen
Versagung, aus Unlust- und Schmerzerfahrung resultierende Ur-Angst und
Enttäuschung löst primäre Abwehrmechanismen aus: Schreien aus ohnmächtiger Wut
einerseits, halluzinatorische Reinszenierung der Wiederverschmelzung
andererseits. Wut und Wiederverschmelzung lösen neuerlich archaische Angst vor
dem Objekt- und Selbstverlust aus und resultieren in primärer Anpassung. Dieser
Auffassung entsprechen die von Melanie KLEIN und ihren Schülern angenommenen
Ur-Phantasien von der Erlebnisaufspaltung des Mutter-Partialbojekts in die
"gute" und die "böse" Brust. Im Schneewittchen-Märchen taucht diese Symbolik
z.B. ebenfalls auf: der von der Stiefmutter, also der "bösen" Seite der Mutter,
verabreichte Apfel ist zur Hälfte vergiftet. Der Apfel, die Milch, die Droge:
sie haben immer ihre zwei Seiten, das Hochgefühl der Verschmelzung und die
Depression der Vernichtung. Die Droge wird zugleich geliebt und gehaßt, sie wird
zugleich fördernd und zerstörend erlebt.
Auf dieses Urerleben lassen sich
auch die Dichotomien, Konflikte und Amalgamierungen von libido und destrudo, von
Lebenstrieb und Todestrieb, von Trieb und Abwehr dialektisch zurückführen. Das
Hochgefühl des genetisch späten Orgasmus bezieht sich auf Erfahrungsinhalte aus
frühesten Formen des Hochgefühls ebenso wie sich Aggression, die sich später
teilweise mit dem Sexualtrieb legiert, auf die aufgespaltene Matrix von
Verschmelzung und Vernichtung zurückführen läßt. Nicht umsonst wird die Extase
des Orgasmus auch als "der kleine Tod" (Quelle? XXX) bezeichnet: im
Gefühlserleben und in der Phantasie schließt sich hier ein Zirkel von
omnipotentem Hochgefühl als beständig treibender Sehnsucht einerseits und
Erfahrung der Endlichkeit der Lust und des Lebens bzw. des in dem
Geschlechtspartner Aufgehens, Sich-Verlierens, der Verschmelzung, Vernichtung,
Tötung andererseits.
Zwar stecken die Psycho-Pharmakologie und die
Psychoanalyse der Drogen noch in den Anfängen, jedoch wage ich folgende These:
Der Genuß bestimmter - sicherlich nicht undifferenziert aller - psychotroper
Drogen wird psychisch wie die Verwirklichung der Ur-Hoffnung auf die
Wiederverschmelzung, auf das absolute Hochgefühl erlebt, zumindest wie eine
Verheißung dieser "Erfüllung" (ein ausdrucksstarkes Wort daür!). Das stellt eine
Kompromißleistung der Abwehr dar: der Drogengenuß hilft ein Stück weit, die
Wiederverschmelzungsphantasie zu reinszenieren, schützt aber andererseits im
Sinne einer narzißtischen Beziehungsabwehr vor einer wirklichen
Objektabhängigkeit und der Gefahr des Verschlungenwerdens Zugleich werden
sexuelle und aggressive Affekte in einem ungerichteten Hochgefühl aufgehoben und
verlieren ihre Erschütterungs- und Bedrohlichkeitsqualität.
Der
Drogengenuß ermöglicht auch die unbewußte halluzinatorische Reinszenierung des
Frühzustandes magischer Allmacht und damit die Abwehr der Regression in primäres
Ohnmachts- und Vernichtungserleben. Insofern bewirken, konditionieren und nutzen
psychotrope Drogen lediglich die inneren Erlebnisqualitäten, welche sowohl
biologisch als auch psychisch angelegt sind: Endorphine einerseits und das
Spektrum endogener rauschhafter narzißtischer Hochgefühle bei Sexualität,
sadistischer oder massenpsychotischer Aggressions-Enthemmung, realer
Machtausübung.
Welches Schicksal die Ur-Triebe erleiden, welchen Verlauf
der archaische Triebkonflikt nimmt ist eine Frage der psychischen
Strukturentwicklung. Je nach Stärke und Relation der Instanzen des Ich und des
Über-Ich überwiegen Fixierungen oder Regressionen, sind Ich-gerechte
Regressionen z.B. in Therapie oder eben auch unter Drogenwirkung möglich.
Anhaltender Drogengenuß kann bedeuten, daß die Angst vor Objekt- und
Selbstverlust abgewehrt werden muß, weil die entsprechende Trauerarbeit nicht
oder noch nicht möglich ist. Trauerarbeit setzt das allmähliche, wohldosierte
Erleben von Versagungen und Abschied, von Verzicht auf Allmacht und
Idealisierung voraus, welches in einer ausreichend günstigen Sozialisation durch
vielerlei Progressionen und Tröstungen kompensiert wird.
Auch
hinsichtlich des Drogengenusses bedeutet Trauerarbeit Abschied. Nämlich Trennung
vom "Ersatz-Objekt" Droge. Bei allmählich nachlassender Drogenwirkung wiederholt
sich im unbewußten Erleben die Trennung von der Mutter, von der Kindheit. So ist
denn auch bekannt, daß - abgesehen von den physiologisch und pharmakologisch zu
erklärenden Erscheinungen der Abängigkeit und Toleranzbildung, das
Anziehungserleben der Drogenwirkung abnimmt. Je nach psychischer Disposition und
sozialem Setting ist der Mensch in unterschiedlichem Maße fähig, die
Enttäuschung dieser Hoffnung zu verarbeiten. Adäquat ist nur die Verarbeitung
durch Trauer. Sonst folgt Wut und deren Abwehr durch weitere Abhängigkeit und
Depression bzw. deren Abwehr durch weiteren Drogenkonsum. Andererseits wird so
verständlich, was die soziologische Drogenforschung herausgearbeitet hat: Etwa
ein Drittel der Heroingebraucher werden im Stadium des Jungerwachsensein
abhängig und steigen jenseits des Alters von 30 - 35 Jahren allmählich ohne
irreversible Gesundheitsschäden von selbst aus der Abhängigkeit aus.
So
ist denn auch die plausible Bedeutung der Perversion, daß hier Trauer nicht
möglich ist und das Trennungs/Verschmelzungs-Trauma permanent reinszeniert und
wiederholt werden muß, um durch die extreme Ritualisierung und Willenssteuerung
des Geschehens in gleichsam magischer Weise die Kontrolle
wiederzuerlangen.
Das Inzestverbot ist insofern nur sekundär als ödipale
Konfliktlösung und als gesellschaftsfunktional i.S. des Exogamiegebots zu
verstehen. Es erscheint vielmehr als die spätere Ausgestaltung der frühen Angst
vor dem unbewußt phantasierten Selbstverlust durch Wiederverschmelzung mit der
Mutter. In der allgemeinen Paradies-Sehnsucht des Menschen spiegelt sich dieser
Phantasie-Hintergrund ebenso wie in Begehrlichkeit, Neid, Geiz. Sammelwut etc.:
allesamt Formen des Festhaltens an und Abkömmlinge der Phantasie, alles zu
haben, alles zu können und alles andere zu vernichten.
Die unbewußte
Phantasie von Paradies, Macht, Omnipotenz, welche an die Rauschdrogen geknüpft
wird, erweist sich auch in der Faszination der Forscher, Allheilmittel oder gar
das Mittel der Unsterblichkeit zu finden - Analogon zur Suche der Alchimisten
nach der magischen Formel zur Goldherstellung. In dem unentwegten Bestreben der
Prohibitionisten, die Drogen wie das Böse endgültig auszumerzen, findet sich als
Abwehrkompromiß die Kehrseite dieses an die Droge geknüpften Allmachts-Wunsches.
Er ist nun auf das Strafrecht verschoben und auf das Reinigungsritual der
Zwangstherapie, man partizipiert unbewußt an dieser phantasierten Allmacht.
Darin liegt zudem noch ein Kompromiß mit den destruktiven Triebanteilen:
Sadistische Befriedigung durch Strafen desjenigen, der sich den Genuß gönnt, bei
voll entlastetem Über-Ich.
Die abgespaltene, verleugnete, projizierte, in
Ritualen isolierte primäre Destruktivität, die unbewußten Tötungsphantasien
spiegeln sich auch im Diskurs über die "Drogentoten", im ritualisierten
täglichen Zeitungsbericht - ähnlich der Mordberichterstattung. Warum gibt es
wohl keine ebensolchen Berichte über Alkohol- und Verkehrstote?
Die
Drogophobie ist auch Ausdruck der Abwehr der Angst vor Abhängigkeit, Wahnsinn,
Kontrollverlust, Durchbruch sowie vor der Rache der unbewußt phantasierten
Adressaten der Destruktivität, der "Feinde": Hier zeigt sich das Todes-Tabu
hinsichtlich der Feinde, wlches FREUD analysiert. Die Ängste vor Strafe,
Vernichtetwerden und Tod sind ihrerseits Resultate von Projektion und
Externalisierung der genannten bedrohlichen Triebimpulse.
Ich sehe z.B.
den sog. psychiatrischen Agnostizismus als Ausdruck des Tabus, als Abwehr der
Berührungs-Angst, dem Kranken in seinen Wahn zu folgen, und dadurch den eigenen
archaischen abgespaltenen Triebimpulsen wiederzubegegnen. Ähnlich zu deuten ist
möglicherweise die Tatsache, daß Psychoanalytiker sich nicht darum bemühen,
Drogengebraucher in Analyse oder Therapie nehmen. Nun mag es - wie beim
Todes-Tabu hinsichtlich der Feinde, auch - Schuldgefühle für das den
Drogengebrauchern zugeteilte Strafübel geben. Diese müssen beständig durch
verstärkte Dramatisierung des Drogenübels oder durch andere
Entschuldigungsrituale gerechtfertigt werden.
Jedenfalls finden wir in
der kollektiven Drogophobie eine ähnliche Kompromißbildung wie bei Neurose,
Borderline-Zustand und Psychose: Triebverwirklichung und Abwehr gehen ein
Amalgam ein, werden gesellschaftlich modelliert und normiert. Auch die Begriffe
von Sucht und Abhängigkeit sind nicht deskriptiv, sondern wandelbare
gesellschaftliche und normative Konstrukte. Es erscheint an der Zeit, diese
Begriff einer tiefgreifenden Analyse zu unterziehen. Allzu umstandslos werden
Abhängigkeit und Sucht als scheinbar empirische Begriffe mit Krankheit
gleichgesetzt, z.B. im Sozialrecht. Es handelt sich also um einen beispielhaften
Fall gesellschaftlicher Konstruktion von äußerer und innerer Realität, nämlich
der Konstruktion und Funktionalisierung von Angst und Abwehr, von Abweichung und
Krankheit einerseits und Abstinenz und Konformität andererseits.
4. Für eine neue Drogen-Moral - Prozeduralisierung als
Voraussetzung
Auch wenn mir der Leser unter Bestehen auf der Schadenshypothese nur
probeweise in dies Gedankenexperiment gefolgt ist, müßte er zustimmen, daß die
bestehende Drogenmoral entweder auf eine bessere Grundlage gestellt werden muß
oder daß eine neue, aufgeklärte, "prozeduralisierte" Drogen-Moral gefunden
werden muß.
Wenn neue Moral, dann bleibt nur ein umfassendes Konzept der
Legalisierung und Regulierung, also eine kontrollierte Freigabe der heut
illegalen Drogen. Alle Vorstellungen einer Freigabe nur "weicher" Drogen oder
nur des Cannabis müssen an logischer Inkonsistenz und faktischer
Wirkungslosigkeit im Hinblick auf Schwarzmarkt, Verelendung und Mafia leiden. Es
muß einer gründlichen und auf Expertenwissen ebenso wie auf Werte-Diskurs
beruhenden Prozedur überantwortet werden, die ein Regulationssystems zu
entwickeln. Mein Vorschlag läuft auf eine drogenspezifisch differenzierende
Lösung hinaus. Manche der heute illegalen Drogen könnten wohl als Genußmittel
analog Alkohol und Nikotin mit gewissen Beschränkungen freigegeben werden.
Andere müßten in ein System fachkundiger Verschreibung, Abgabe oder
Verabreichung überführt werden, um die entsprechende Beratung und Aufklärung zu
gewährleisten. Das wird wohl nur mit spezfisch fachkundigen Ärzten oder anderen
Spezialisten, z.B. einer Selbstorganisation der entsprechenden Konsumenten,
möglich sein.
Die entrüstete, "puristische" Abwehr der Ärzte und
teilweise auch Apotheker, sie wollten keine "Dealer in Weiß" sein, erscheint
jedenfalls heuchlerisch: Sei es aus Hilflosigkeit gegenüber den wirklichen
Störungsursachen, sei es aus dem allgegenwärtigen Gewinnmotiv heraus
verschreiben doch Ärzte seit langem hochwirksame und abhängig machende
psychotrope Drogen. Die zumeist irreversiblen Nebenwirkungen und Folgen der
massenhaften Verschreibung von legalen "Uppern" und "Downern", von gefährlichen
Schlafmitteln etc. werden in Medizin und Gesellschaft nicht im Entferntesten so
thematisiert wie die illegalen Drogen. Die Sündenbockfunktion der illegalen
Drogen einerseits und die unangemessen entlastende Ventil-Doppelmoral des
Alkohols muß offengelgt werden. Die psychotropen Drogen, inklusive Alkohol und
Nikotin, müssen insgesamt, in nüchterner und differenzierender betrachtet und
problematisiert werden. Der wissenschaftliche und politische Blick muß endlich
auf die eigentlichen, zugrundeliegenden Probleme gerichtet werden. Und: der
Drogen- und Suchtbegriff muß entschlackt werden von seinem Tabu-Gehalt, in
vernünftiger und humaner Weise muß den Menschen auch ein "Recht auf Rausch" oder
ein "Recht auf Extase" zugebilligt werden. Nicht zuletzt aus grundrechtlichen
Erwägungen hat der Staat im Sinne eines wohlverstandenen, "weichen
Paternalismus" die Pflicht, die Bürger über Risiken, aber auch über die
risikoarmen Gebrauchsweisen und positiven Potentiale aufzuklären und die
Bedingungen der Herausbildung einer "Drogenkultur" zu gewährleisten. Er hat
nicht die Pficht, die Bürger im Sinne irgendeines wandelbaren
Gesundheitsbegriffs oder Abstinenzideals oder einer Leistungs-, Arbeits- oder
Beziehungsmoral zu bessern. Er hat aber die Pficht, zu entmystifizieren, Mythen
zu entrümpeln, auch über die unbewußten Bedingungen der überschießenden,
irrationalen "Drogophobie" aufkzuklären und unangemessene Ängste dadurch zu
mildern.
Warum läuft die faktische Entwicklung dem weiterhin entgegen
i.S. der skizzierten Prozesse von Mystifizierung. Mythisierung und
Moralisierung? Mit den Werten und Methoden der Aufklärung, dem "Projekt der
Moderene", hat das nichts mehr zu tun. Aber mit was dann? Ist das die
Postmoderne in Wissenschaft und Politik? Dies könnte auf der soziologischen Eben
die Erklärung sein: In den U.S.A. "verschwindet" z.B. die Philosophie,
Soziologie und Gesellschaftstheorie zunehmend von den Universitäten, aus der
institutionalisierten Wissenschaft. Sie wird in Bruchstücken und rein
anwendungsbezogen mit anderen Disziplinen amalgamiert, z.B. der
Betriebswirtschaft oder Nationalökonomie. Der weltweite Neo-Liberalismus und
Pragmatismus, die an sich zu begrüßende "Ideologiefeindlichkeit" haben auf ihrer
Kehrseite in Form von Narzißmus und Mach-Zynismus einen tiefgreifenden Theorie-
und Kulturverlust.
Herbert Jäger hat - bezogen auf die Nazi-Verbrechen -
gesagt:
"Kollektive Gewalt ist vor allem durch Rechtfertigung,
Neutralisationen, Umwertungen bis hin zu Zuständen vollständiger `moralischer
Anästhesie` gekennzeichnet" (JÄGER, Herbert: Kriminologie kollektiver
Verbrechen. In: ders. 1967/1982: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft.
Frankfurt 1982, S.382. Ich finde, daß die Strafverfolgung von Drogengebrauchern
faktisch auch eine solche Art von kollektiver Gewalt darstellt. Und ich finde,
daß auch die kollektive Verdummung der Bevölkerung eine Form von Nötigung
darstellt: nämlich ein Hindernis für innere Befreiung, welches psychische
Gewaltwirkung entfaltet.
Welches könnten Gegenmittel sein, wie könnte die
geforderte Aufklärung etabliert werden? Ich meine es bedarf zunächst einer
erneuerten gesellschaftlichen Verständigung auf eine Diskursethik der
Differenzierung und Aufklärung, auf einen Verzicht auf Affektabfuhr in der
Kriegslogik. Konkretisiert werden müßte das in einer veränderten politischen
Moral, in einer Prozedur der Problemaufbereitung, Skizzierung von
Lösungsoptionen und Konsensfindung unter Besinnung auf humane, soziale und
demokratische Grundwerte unserer Gesellschaft sowie deren Abwägung.
Literatur:
BÖLLINGER, Lorenz/STÖVER, Heino: Drogenpraxis, Drogenrecht, Drogenpolitik. 3. Aufl., Frankfurt 1992
BÖLLINGER, Lorenz: Strafrecht, Drogenpolitik und Verfassung. Kritische Justiz 1991, S. 393 ff.
ELIAS, Herbert: (Zu Heroinabh.) In: GRIMM, Gorm: ....
FREUD, Sigmund (1885): Über Coca. PSYCHE 1973, S. 489 ff.
FREUD, Sigmund (1898): Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. GW I, S. 489 ff. (506)
FREUD, Sigmund (1913): Totem und Tabu. GW IX, S.5 ff.
HABERMAS, Jürgen: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt 1983
HAFFKE, Bernhard: Gibt es ein verfassungsrechtliches Besserungsverbot? MSchrKrim 1975, S. 246 ff.
KÖHLER, Michael: Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht. ZStW 104, 1992, S. 3 ff.
LUHMANN, Niklas: Soziologie der Moral. In: ders./PFÜRTNER, Stephan (Hrshg.): Theorietechnik und Moral. Frankfurt 1978, S. 8 ff.
MARCUSE, Herbert: Der eindimensionale Mensch. 3. Aufl., Frankfurt 1968
PEELE, Stanton: Redefining Addiction. Int.J.of Health Services 7, 1977, 103 pp.
SCHEIDT, Jürgen vom: Sigmund Freud und das Kokain. PSYCHE 1973, S. 387 ff.
WOLFF, Jean Claude: Paternalismus, Moralismus und Überkriminalisierung. In: GRÖZINGER, Gerd (Hrsg.): Recht auf Sucht? Berlin 1991, S. 38 ff.
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