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Kommentar

13.09.2001
Zivilisationsbruch
Terroristische Großoffensive gegen die USA

Der von allen zivilisatorischen Hemmungen, die ihm der staatlich organisierte Sozialismus auferlegt hatte, entledigte Kapitalismus sieht sich spiegelbildlich mit seiner eigenen Fratze konfrontiert. Doch der Zivilisationsbruch, der nun allenorts konstatiert wird, fand nicht an diesem Blutdienstag statt, als das mächtigste Land der Welt in seinen heiligsten Kultstätten vernichtend angegriffen wurde und in Hilflosigkeit erstarrte, sondern vor zehn Jahren.

Damals hat der gescheiterte Sozialismus den Kapitalismus mit seinen Widersprüchen allein gelassen, und der weiß damit nicht sonderlich vernünftig umzugehen. Das Konsensprinzip in den internationalen Beziehungen, festgeschrieben im Völkerrecht, mußte der offenen Gewaltherrschaft der kapitalistischen Großmächte weichen, die Freiheit des Welthandels knebelt wie nie zuvor die abhängigen Staaten, das westliche Wertesystem als Verbindung der »Tugenden« der Profiterwirtschaftung mit pfäffischem »Humanismus« geriert sich in totalitärer Ausschließlichkeit als »Weltmoral«. Im Weltcasino herrscht hemmungslose Spielleidenschaft, gestohlenes Geld rast rund um die Uhr um den Erdball. In Rußland gelangte die organisierte Kriminalität an die Macht, was nachhaltigen Einfluß auf die kapitalistische Weltmoral ausübte. Albanische Drogenhändler wuchsen zur regionalen Elite der Neugestaltung des Balkans. Afghanischen Drogenhändlern war eine zentrale ordnungspolitische Rolle bei der Destabilisierung der postsowjetischen Republiken in Mittelasiens zugedacht.

Als tschetschenischer Terror in Moskau Hunderte Todesopfer forderte, fanden russische Anti- Terrormaßnahmen keineswegs die Zustimmung des Westens, ungeachtet der Rolle Bin Ladens als mutmaßlicher Finanzier des tschetschenischen »Widerstandes«.

Nach der terroristischen Großoffensive gegen die USA läuten sämtliche Kirchenglocken des christlichen Abendlandes. Doch die Botschaft ist keine barmherzige, sondern eine des militanten Christentums. Sie verheißt der arabisch-islamischen Welt Blut und Tränen. Solidarität mit den USA wird nach diesem terroristischen Schwerstverbrechen wieder zur ersten Bürgerpflicht erhoben. Ein Schurke, der amerikanische Empfindlichkeiten - nicht die Trauer um die unschuldigen Opfer ist damit gemeint, sondern die demütigende Erfahrung der Verwundbarkeit des Weltmeisters aller Klassen - nicht nachempfindet. Amerikanische Rachefeldzüge erscheinen als Gebot der Zivilisation. Auch wenn es nach dem Krieg ein paar Länder weniger geben sollte.

Werner Pirker

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