Günther Jacob
Manhattan Transfer Wie der
Kampf gegen den US-Imperialismus die Linke überlebt hat
Antiimperialismus heute "Wer ist der wahre Schuldige an
der Zerstörung des World Trade Centers?" Diese Frage stellte sich am
28. September in einem einflußreichen deutschen Organ
antiimperialistischer und kulturlinker Strömungen die linke indische
Schriftstellerin Arundhati Roy. Ihr Essay enthält eine umfassende
Anklage gegen den US-Imperialismus sowie gegen die anmaßende
Abgrenzung der "westlichen Zivilisation" von der "orientalischen
Barbarei". Gerade im Moment der Trauer der Amerikaner möchte die
Autorin unangenehme Fragen stellen und über die Schmerzen sprechen,
die Amerika den Menschen in den armen und in Abhängigkeit gehaltenen
Ländern zugefügt hat und zufügt. Anhand vieler gut gewählter
Beispiele beschreibt sie eine Welt, "die durch die amerikanische
Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre Kanonenbootpolitik, ihr
Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der unumschränkten
Vorherrschaft, ihre kühle Mißachtung aller nicht-amerikanischen
Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen, ihre
Unterstützung für despotische und diktatorische Regimes und ihre
wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein
Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen
haben". Sodann erinnert die Autorin, die den Nachrichtentüffel
Wickert so hübsch in Schwierigkeiten gebracht hat, daran, daß die
USA seit dem Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan im Jahr 1979
alles getan haben, um in den muslimischen Sowjetrepubliken eine
islamische Erhebung gegen die Kommunisten zu fördern und daß in
diesem Zusammenhang auch Osama Bin Laden und etwa 100.000 radikale
Mudjaheddin aus vierzig Ländern finanziert wurden. "Der Djihad griff
über nach Tschetschenien, in den Kosovo und schließlich nach
Kaschmir." Schließlich erinnert sie an die Atombomben auf Hiroshima
und Nagasaki sowie an "die Millionen Toten" in Korea, Vietnam und
Kambodscha, Chile, Nicaragua, El Salvador, Panama, Dominikanische
Republik, Somalia und Jugoslawien. Am Ende ihres Essays
kommt die Schriftstellerin auf ein weiteres Verbrechen des
US-Imperialismus zu sprechen. Denn zu erinnern sei auch an "die
17.500 Toten, als Israel 1982 im Libanon einmarschierte, und die
Tausende Palästinenser, die im Kampf gegen die israelische Besetzung
des Westjordanlandes den Tod fanden". Diese Anklage unterstützt auch
der Pekinger Professor Han Deqiang. Zwei Tage vor Erscheinen des
Aufsatzes von Arundhati Roy wird in derselben Zeitung dessen Antwort
auf die Frage nach den "wahren Schuldigen" gemäß einer dpa-Meldung
zitiert: "Die Amerikaner selbst. Amerika wollte erstens über die
Welt herrschen und sich zweitens die Ölquellen sichern. Deshalb hat
man jahrzehntelang die jüdischen Chauvinisten in Israel unterstützt.
Die amerikanische Bevölkerung erfährt von diesen Verbrechen des
Imperialismus am arabischen Volk nichts." Das
antiimperialistische Zentralorgan, das diese Texte publizierte,
ist die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Wie kommt sie dazu, und
wie kommen eine linke indische Schriftstellerin und ein
kommunistischer Pekinger Professor dazu, eine zunächst durchaus
zutreffende Charakterisierung des US-Imperialismus in eine Anklage
gegen den "jüdischen Chauvinismus" münden zu lassen und diesen den
"Verbrechen des Imperialismus" zuzuschlagen? Wie ist es möglich, daß
zwei Autoren, die immerhin beanspruchen, im Namen derer zu sprechen,
deren Hoffnungen von Amerika mißachtet werden, zu Schlußfolgerungen
gelangen, deren Nähe zur Propaganda von Islamisten und Neonazis
unübersehbar ist? War nicht gerade von Bin Ladens Organisation
Al-Qaida, die auch "Islamistische Weltfront gegen Juden und
Kreuzfahrer" genannt wird, in diesen Tagen ständig zu hören, die
Vereinigten Staaten stünden unter jüdischer Kontrolle, und
bezeichnete nicht der NPD-Funktionär Steffen Hupka am 3. Oktober
während der Berliner Kundgebung seiner Partei zum "Tag der Deutschen
Einheit" die Anschläge von New York und Washington als "Widerstand
der unterdrückten Völker gegen den US-Imperialismus"?
"Unterdrückte Völker, vereinigt Euch" Die USA sind nach
dem von ihnen erfolgreich betriebenen Untergang der Sowjetunion und
ihres assoziierten Staatenbündnisses die einzig verbliebene
Weltmacht. Und als solche demonstrieren sie nach den Attentaten ihre
Handlungsfähigkeit. Das "Bündnis gegen den Terror", das die USA
durch eine gekonnte Kombination aus militärischen Drohungen und
Diplomatie im September erzwungen haben, relativiert die
konkurrierenden europäischen pro-arabischen Ambitionen im Nahen
Osten, vergrößert Amerikas Einfluß in Zentralasien und schwächt die
vielfältigen Widerstände gegen das
National-Missile-Defense-Programm, das nicht nur gegen
Langstreckenraketen von "Schurkenstaaten" und Regionalmächten wie
Indien und Pakistan gerichtet ist, sondern vor allem gegen die von
Rußland und China. Man benötigt keine ausgefeilte
Imperialismustheorie, um in den USA die einzige verbliebene
Weltmacht zu erkennen. Es liegt aber nahe - besonders in
kriegsträchtigen Zeiten -, daß eine derartige Machtkonstellation
nicht nur benannt, sondern auch nach ihren Voraussetzungen befragt
wird. In der Linken wurde die ökonomische und politische Konkurrenz
der kapitalistischen Staaten und die Herausbildung von Großmächten
meistens auf der Grundlage von Imperialismustheorien beurteilt, von
denen die bekannteste die Leninsche ist, die später im Kontext des
Marxismus-Leninismus kanonisiert wurde. Zu den Essentials dieser
Theorie gehört unter anderem die Annahme, daß der Kapitalismus der
Konkurrenz sich zum Imperialismus der Monopole und des
Finanzkapitals entwickelt hat. Davon ausgehend wurde seinerzeit von
der kommunistischen Bewegung eine "imperialistische Epoche"
definiert, eine "Niedergangsperiode" des Kapitalismus, in der
antiimperialistische Kämpfe von unterdrückten "Völkern" die Funktion
von bürgerlich-nationalen Revolutionen haben, die prinzipiell zum
Sozialismus führen können (s. KONKRET 5/94). Diese Sichtweise
hatte trotz ihrer offensichtlich fragwürdigen werttheoretischen
Grundannahmen ("Monopol") und Substantialisierungen ("Völker") bis
in die Zeiten des Kalten Krieges so viele Anhaltspunkte in der
Realität, daß sie selbst durch die Beteiligung der USA an der
Anti-Hitler-Koalition nicht wesentlich modifiziert wurde.
Schließlich war es wiederum nach 1945 der US-Imperialismus, der als
entschiedenster Gegner der realsozialistischen Staaten, Chinas,
verschiedener linker Bewegungen und vieler Befreiungsbewegungen den
"Weltimperialismus" verkörperte. Mit anderen Worten: Welche Fehler
dabei auch gemacht worden sind - der Kampf gegen den
"Weltimperialismus" wurde immer mehr ein Kampf gegen den
US-Imperialismus, und als solcher wurde er zum Bestandteil einer mit
den linken Biographien und Gefühlswelten fest verknüpften
"Weltanschauung". Der linke Antiimperialismus unterschied sich
überdies von allen anderen linken Positionen durch seinen immensen
Einfluß auf andere Strömungen und Bewegungen. Liberale
Metropolenbewohner sympathisierten mit dieser Weltsicht, und
Millionen Aktivisten der "unterdrückten Völker und Nationen" in
Asien, Afrika, Lateinamerika und in den arabischen Ländern
begründeten mit ihr die antikolonialen Kämpfe. Man kann sagen, daß
der marxistisch-leninistische Antiimperialismus über Jahrzehnte die
weltgeschichtlich einflußreichste linke Position war und daß der
"Kampf gegen den US-Imperialismus" die Linke schließlich sogar
überlebt hat.
Zionisten und Imperialisten Durch die
Selbstverständlichkeit, mit der der linke Antiimperialismus positiv
auf "Völker" und "Nationen" wie auf "organisch" gewachsene
Gegebenheiten Bezug nahm und mit der er die ganz und gar
unkommunistischen Interessen von Bauern und "patriotischen"
Aristokraten in instrumentalisierender Absicht als "progressiv"
bewertete, entwickelte sich der Antiimperialismus schon bald zu
einem Konglomerat aus nationalistischen Mythen, verschwörerischen
Praktiken und fragwürdigen Bündnissen mit reaktionären politischen
Kräften. Hinzu kam, daß in den zentralen Kategorien dieser
Weltanschauung - "Finanzkapital", "Parasitismus" etc. - ein
antisemitisches Potential steckt, das nach Lenins Tod auch wirksam
wurde, das jedoch gewissermaßen eingegrenzt blieb, solange und
soweit der Antiimperialismus noch auf Klassenkampf und
Antifaschismus verpflichtet blieb. Zum festen Bestandteil
des Antiimperialismus wurde der Antisemitismus erst durch die
Nutzanwendung des Konzepts der "nationalen Befreiung" auf die
Situation im Nahen Osten nach der Gründung Israels, und dies nicht
zuletzt, weil die realsozialistischen Staaten in den "Völkern des
Nahen Ostens" eine Klientel sahen, die sich gegen den
US-Imperialismus mobilisieren ließe. Deshalb stellte sich die
Sowjetunion, nachdem sie zunächst für Israel votiert hatte, auf die
Seite der palästinensischen "nationalen Befreiung", weshalb Israel
in der damaligen bipolaren Welt gar keine Wahl blieb, als sich an
den Westen zu halten und damit ein "Bündnis mit dem Imperialismus
einzugehen". Für einen Antiimperialismus, dem Lenins naive Warnungen
vor nationalistischen Tendenzen schon nichts mehr bedeuteten,
gehörten von nun an Zionismus und US-Imperialismus zusammen, wobei
Israel als eine besonders perfide Variante des imperialistischen
Kolonialismus galt - als rassistischer Siedlerstaat, der vom
US-Imperialismus erfunden wurde, um eine ölreiche Region militärisch
kontrollieren zu können. Die antiisraelische Propaganda wurde nun
zum Schatten, der den Antiimperialismus begleitet. Diese Propaganda
hat sich in dem Maße antisemitisch radikalisiert wie der
Antiimperialismus zum kulturell begründeten Antiamerikanismus
wurde.
Antiimperialismus in Namen Gottes In der den Holocaust
relativierenden Variante nahm der "antiimperialistische Kampf"
synchron zum Zerfallsprozeß der Neuen Linken und der weiteren
Erosion des Realsozialismus mehr und mehr wahnhafte Züge an. Die
Agitation gegen "Zionismus und US-Imperialismus", zunächst
mitgetragen vor allem von deutschen und japanischen Linken, wurde
nach deren endgültiger Marginalisierung schließlich zur Sache von
Islamisten und Neonazis. Ehemalige Linke in den arabischen Ländern,
in Europa und natürlich in Deutschland waren und sind daran direkt
beteiligt. Zu den bekanntesten deutschen Figuren gehört der
NPD-Anwalt Horst Mahler, der während seiner RAF-Jahre in
palästinensischen Lagern eine Ausbildung im "bewaffneten Kampf"
erhalten hatte. Daß es sich bei der US-Regierung um ein "Zionist
Occupation Government" handelt und US-Imperialismus und "jüdisches
Finanzkapital" zusammengehören, ist heute für islamistische und
rechtsradikale Antiimperialisten gleichermaßen eine
Selbstverständlichkeit. Die politischen (Camp David),
militärischen (Pentagon) und ökonomisch-kulturellen (World Trade
Center) Zielobjekte der Anschläge vom 11. September belegen, daß die
Attentäter die USA umfassend treffen wollten. Die Zahl der Opfer und
das Ausmaß der Zerstörung weisen aber darauf hin, daß das World
Trade Center und damit New York ihr Hauptziel war. Auch von vielen
US-Amerikanern mit Mißtrauen beobachtet, stellt New York in der
symbolischen Ordnung der westlichen Kultur eine eigenständige Größe
dar, die mit Urbanismus, Kommerz und Populärkultur identifiziert
wird und weniger mit der militärischen Größe Amerikas. Vor allem
aber ist New York die Stadt, in der die meisten Juden außerhalb
Israels leben. Für das islamistische Ziel, weltweit "alle Amerikaner
und Juden" anzugreifen, stellt das "multikulturelle" New York daher
ein ideales Angriffsobjekt dar. Diese Motive des "antizionistischen
Antiimperialismus" und seines Anschlags auf das World Trade Center
sind so unübersehbar, daß es schon auffällt, wie wenig in
Deutschland und wie wenig in Flugblättern der deutschen Linken davon
die Rede ist - und das, obwohl die Attentäter als ihren
Vorbereitungsraum nicht zufällig Deutschland gewählt hatten.
Beim Sichten der Erbschaft Nach den Attentaten auf das
Pentagon und das World Trade Center muß die Kritik am Wirken der
einzig verbliebenen Weltmacht nicht zurückgenommen werden. Aber die
historische Transformation des linken Antiimperialismus zum
antisemitischen "heiligen Antiimperialismus" macht es unmöglich,
dabei das alte Kategoriensystem weiterzuverwenden. Auch der
verschwörungstheoretisch raunende "neue Antiimperialismus" der
"Globalisierungsgegner", die behaupten, es gäbe nun "keine nationale
Macht mehr, die die Kontrolle über die gegenwärtige globale Ordnung
ausübt", weshalb der "Protest nicht mehr antiamerikanisch" sein
sollte, sondern sich "gegen eine andere, größere Machtstruktur"
(Antonio Negri) richten müsse, muß wegen seiner antisemitischen
Konnotationen abgelehnt werden. Für Linke ist das eine aus
mehreren Gründen unkomfortable Situation. Erstens: Die Kontrolle
über die gegenwärtige militärische, politische und ökonomische
globale Ordnung wird zweifellos nicht von der "Weltbank" (wie bei
Negri), sondern von der einzig verbliebenen Weltmacht ausgeübt, zu
der sich ambitionierte imperialistische Mächte wie Deutschland bei
jedem Machtzuwachs aufs neue ins Verhältnis setzen müssen. Jede
antikapitalistische und antideutsche Bestrebung stößt daher auch auf
die Machtpolitik des US-Imperialismus, der die gegenwärtige
Weltordnung am effektivsten garantiert, der zugleich aber als
einzige Macht auch die Existenz Israels garantiert, selbst dann,
wenn er Israels Interessen - wie derzeit - dem "Bündnis gegen den
Terrorismus" unterordnet. Zweitens: Die USA waren über
vierzig Jahre lang der Hauptveranstalter der atomkriegsträchtigen
Feindschaft mit der Sowjetunion und ihrem realsozialistischen
Staatenbündnis. Die USA haben das "Reich des Bösen" schließlich zur
Kapitulation gezwungen und die deutsche "Wiedervereinigung" möglich
gemacht. Alle geschichtsrevisionistischen Tendenzen und Praktiken
der Gegenwart gehen auf dieses Ereignis zurück, auch der wachsende
Druck auf Israel. Ein Attentat wie das vom 11. September hat es erst
nach dem Ende der bipolaren Ost/West-Welt geben können, deren
Regulierungsmechanismus die USA nun durch ihr Raketenabwehrsystem
und das Anti-Terror-Bündnis ersetzen will. Drittens: Die
der Linken durch die USA besonders 1990 zugefügte Demütigung
produziert beinahe zwangsläufig das Gefühl, daß diese Supermacht
eine Erniedrigung verdient hat. Diese mit den linken Biographien
verbundene Emotion gerät für einen Moment in das Kraftfeld jenes
wahnhaften "heiligen Antiimperialismus", der für das Attentat auf
das World Trade Center verantwortlich ist, eines Antiimperialismus,
der ganz offensichtlich nicht der unsere ist, der uns aber an eigene
Irrtümer und Niederlagen erinnert. Viertens: Die alten
Argumentationsfiguren des antikapitalistischen Antiimperialismus
behalten so lange mehr oder weniger stark ihre Bedeutung für die
Groborientierung in der sozialen Welt, wie sie nicht durch
"handelnde Selbstkritik" überwunden werden. Bei bestimmten Analysen
von weltpolitischen Machtkonstellationen greifen wir vorerst noch
auf klassische antiimperialistische Kategorien zurück. Das seit 1990
unter dem Schock der "Wiedervereinigung" erarbeitete Wissen steht
häufig noch unverbunden neben dem älteren (zum Beispiel über die
"Ausbeutung der Dritten Welt"). Gleiches gilt für die Mentalitäten.
Es gibt nach all dem eine Diskrepanz zwischen emotionaler
Disposition (linke Tradition) und dem politischen Wissen über
Holocaust, Antisemitismus und die Gefährdung
Israels. Fünftens: Es ist davon auszugehen, daß der linke
politische Habitus im Verhältnis zu den geführten Debatten ein
eigenes Gewicht hat. Diskurse und Verhalten fallen sogar meistens
auseinander. Die expliziten Normen des "politisch korrekten"
Sprechens stimmen nicht unbedingt überein mit jenen, die tatsächlich
in den "politischen Mentalitäten" zum Vorschein kommen, meistens
aber implizit bleiben. Das Bewußtsein, welches nötig ist, damit die
üblichen politischen Praktiken vollzogen werden können, ist nicht
kongruent mit demjenigen, das Rechenschaft über das Tun
abgibt. Beispielhaft zeigt das die Literatur über das
politische Denken von jüdischen Kommunisten. Konfrontiert mit der
bitteren Tatsache, daß die Bewegung, der sie angehörten, zwar
antifaschistische Arbeit geleistet, letztlich aber wenig gegen
Antisemitismus und zur Verhinderung der Vernichtung der europäischen
Juden unternommen hatte, können sie meistens das "kommunistische
Lebensgefühl" nicht überwinden, in dem beispielsweise beim Stichwort
"sowjetische Lager" automatisch der Verdacht im Raum steht, daß sich
jetzt der Antikommunismus äußert. Und solche Gefühle sind nicht
einfach vergangenheitsselig, weil die Abwertung aller linken
Bemühungen ja weitergeht. Hazel Rosenstrauch schreibt in ihrem Buch
Beim Sichten der Erbschaft (Heidelberg 1992) unter anderem über die
Kinder von New Yorker jüdischen Kommunisten: "Für sie waren die
russische Revolution mit dem Ende der Pogrome und das kommunistische
Lebensgefühl nicht mit Stalin, sondern der Hexenjagd gegen ihre
Eltern in der McCarthy-Zeit verbunden."
Formen der Verleugnung der Erbschaft Die schlechten
Alternativen zur "handelnden Selbstkritik" sind seit dem 11.
September notorischer Antisemitismus ("Junge Welt"-Milieu), linke
Kriegsbegeisterung ("Bahamas"-Milieu) und Lobgesänge auf die
aufgeklärte Zivilgesellschaft ("Jungle World"-Milieu). Für ersteren
ist der islamische Terrorismus Symptom einer Krankheit, die
Zionismus und US-Imperialismus heißt. In dieser Vorstellung ist
niemand mehr für etwas verantwortlich: "Irgendwann mußte es so
kommen. Irgendwann mußte dem Labor Frankensteins ein Monster
entspringen, das sich gegen seinen Schöpfer wenden würde" ("Junge
Welt", 17.9.). Diese Krankheit/Symptom-Metaphorik scheint für
viele die letzte argumentative Zuflucht zu sein, die sich aus
unterschiedlichen Gründen mit dem Attentat nicht identifizieren,
aber darauf beharren wollen, daß die USA sich nicht wundern sollten.
Indem man aber sagt, die Attentäter hätten trotz "falschen
Bewußtseins" die Richtigen getroffen, verschweigt man ihre
antisemitischen Motive. Und auf die Titelseite schreibt man dann
Headlines wie "Sharon blockt Nahost-Dialog" oder "Britischer Soldat
getötet: Intifada in Skopje". Aus der begrifflichen
Konstruktion der Wirklichkeit - nach Adorno das "Urbild der
Lösungen" - folgt notwendig die Forderung nach ihrer realen
Veränderung. Nur die Handelnden sind frei, in der Welt etwas Neues
anzufangen und einen neuen Sachverhalt herbeizuführen. Diese
Freiheit kann sich die amerikanische Regierung leisten, und auch die
Attentäter haben gehandelt. Die Handlungsmöglichkeiten von Linken
sind hingegen derzeit eingeschränkt. Einige wollen daher wenigstens
in ihrer Einbildung Handelnde sein. Die Zeitschrift "Bahamas"
fordert von den USA nicht weniger als die militärische "Beseitigung
islamischer Herrschaft" und das Ende des "moslemischen
Götzendienstes", was einem Ruf nach Kriegsverbrechen gleichkommt,
weil dieses Ziel nur durch Massenmord zu erreichen wäre. Außerdem
würde ein solcher Krieg eine maximale Gefährdung Israels bedeuten.
Hier führt offensichtlich die völlige Verleugnung der eigenen
Demütigungen und des Wunsches nach Revanche direkt in den Wahn der
Identifizierung. Das hat den Totalverlust des angelesenen Wissens
(Adorno, Wertkritik) zur Folge. Der Begriff, den man sich "vom
Kapitalismus" machte, soll nun mit Hegel in den Krieg ziehen. Ohne
es zu wissen, so nimmt man wohl an, könne die US-Army den Stoßtrupp
des Weltgeistes abgeben und in den arabischen Ländern "den Wunsch
nach kommunistischer Aneignung aufkeimen lassen". Auch weniger
kriegsbegeisterte Linke glauben seit dem 11. September wieder an
eine "zivilisatorische Mission des Westens" (sie meinen natürlich
Deutschland). Leute, die es den Sowjets vermutlich einst verübelten,
als sie tatsächlich, aber ohne westlichen Dünkel, das Licht der
Aufklärung nach Afghanistan brachten, entdecken trotz der westlichen
"Ethnien"-Förderung auf dem Balkan nun die angeblich objektiv
"emanzipatorische" Funktion der USA und der Nato. Noch nie wurden so
viele linke Schwüre auf die Aufklärung, auf die "Menschenrechte" und
die "Zivilität unserer Gesellschaften" geschworen. "Aber wenn etwas
am amerikanischen Imperialismus positiv zu bewerten ist, dann ist es
genau das amerikanische Element: die globale Zerstörung ethnischer
und religiöser Identität, die Vernichtung des (oft gewalttätigen)
Idylls der Doofen und Zurückgebliebenen" ("Jungle World", 26.9).
Engagiert vergleicht man das Taliban-Regime mit dem
Schröder/Fischer/Scharping-Regime, um dann erleichtert feststellen
zu können: "In diesem Falle ist der Kapitalismus seinen Feinden
vorzuziehen." Na Bravo! "In einer solchen Welt wäre der Gedanke der
Emanzipation endgültig abgeschafft. Das muß verhindert werden. Wenn
nötig, auch mit Gewalt." Sehr gut! Kritik am Kapitalismus ist gut
und schön, aber wenn's drauf ankommt, weiß man doch, was man an ihm
hat.
Günther Jacob stellte in KONKRET 10/01 eine Collage zur
"Wehrmachtsausstellung" im Kanzleramt
zusammen |